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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung.
Autoren: Stanislaw Lem
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Wort: Gegen Abend wurden sie freigelassen. Das Haus war totenstill, finster leer. Stefan ging in sein Zimmer, um das Nötigste zu packen. Als er Licht machte, sah er auf dem Tisch Sekulowskis Notizblock und daneben die Skulptur. Den Block steckte er in seinen Koffer. Und als er die Skulptur betrachtete, mußte er daran denken, daß ihr Schöpfer jetzt irgendwo in der Nähe, erdrückt unter der Last vieler blutiger Leiber, in einer Grube verscharrt lag, und ihm wurde unwohl.
    Eine Weile setzten ihm Magenkrämpfe zu, dann sank er auf sein Bett und brach in ein trockenes, ersticktes Schluchzen aus. Schließlich kam Ruhe über ihn. Rasch verstaute er seine Sachen und schloß den Koffer, indem er mit dem Knie nachhalf. In diesem Augenblick betrat jemand das Zimmer. Stefan fuhr auf: Dr. Nosilewska. In einer Hand trug sie eine Reisetasche, in der anderen einen länglichen weißen Gegenstand, ein Bündel Papiere.
    »Ich fand das im Flur«, sagte sie und reichte ihm die Rolle hin. Stefan schien nicht verstanden zu haben, und so fügte sie hinzu: »Sekulowski muß es verloren haben … Sie hatten sich ja seiner angenommen, da glaubte ich eben … es ist doch … es war doch sein Eigentum.«
    Stefan stand mit schlaff herabhängenden Armen vor ihr und rührte sich nicht. »Es war?« sagte er. »Ja, stimmt, es war …«
    »Nicht daran denken«, ermahnte sie ihn im Tonfall des Arztes. Er hob den Koffer, griff im Vorbeigehen die Papiere und zauderte. Doch dann schob er sie langsam in die Tasche.
    »Jetzt gehen wir, nicht wahr?« fragte sie. »Rygier und Pajączkowski wollen über Nacht hierbleiben. Ihr Freund ebenfalls. Bis morgen früh. Die Deutschen haben versprochen, ihnen die Sachen zur Bahn zu fahren.«
    »Und Kauters?« fragte Stefan, ohne aufzuschauen.
    »Sie meinen von Kauters?« erwiderte sie mit Nachdruck. »Das weiß ich nicht. Vielleicht bleibt er hier.« Auf seinen erstaunten Blick fügte sie hinzu: »Hier soll nämlich ein SS-Lazarett eingerichtet werden. Ich habe es aufgeschnappt, als er sich mit Thießdorf unterhielt.«
    »Ach so«, meinte Stefan. Die Schläfen taten ihm weh; der Schmerz strahlte bis auf die Stirn aus.
    »Wollen Sie bleiben? Ich habe hier nichts mehr zu suchen.«
    »Ihre Ruhe hat mir sehr imponiert.«
    »Damit ist es jetzt auch zu Ende. Ich muß fort. Ich muß weg von hier«, wiederholte sie.
    »Ich komme mit«, sagte er plötzlich, da er fühlte, daß auch er es nicht fertigbrachte, Gegenstände zu berühren, auf denen noch die frischen Spuren der Toten lagen, Luft zu atmen, in der ihr Atem noch mitschwang, oder sich unter ihren imaginären Blicken zu bewegen.
    »Aber wir müssen durch den Wald«, bemerkte sie, »erstens kürzen wir dadurch den Weg ab, und zweitens patrouillieren die Ukrainer auf der Landstraße, wie ich von Hutka erfahren habe. Denen möchte ich lieber nicht begegnen.«
    Im Erdgeschoß zögerte Stefan wieder. »Und die anderen …?«
    Sie verstand, was in ihm vorging. »Ersparen wir das uns und ihnen«, sagte sie. »Was wir alle jetzt brauchen, das ist eine andere Umgebung. Und das sind andere Menschen …«
    Sie schritten dem Ausgang zu; die Wipfel der dunklen Bäume rauschten wie der Spiegel der kühlen See. Die Nacht war mondlos. Vor dem Tor tauchte unvermittelt eine große Gestalt aus dem Dunkel.
    »Wer da?«
    Gleichzeitig umflutete sie der grelle Lichtkegel einer Taschenlampe.
    Im Widerschein der Blätter erkannten sie Hutka. Er machte einen Rundgang im Park. Er winkte ab. »Gehen Sie.«
    Stumm gingen sie an ihm vorbei.
    »Hallo!« rief er. Sie blieben stehen. »Ihre erste und einzige Pflicht ist Schweigen. Verstehen Sie?« sagte er, wobei er näher kam. Vielleicht war es auch nur dem grellen, von Schattenkeilen zersägten Licht zuzuschreiben, jedenfalls hatten seine Züge, als er im wogenden, bis an die Stiefel herabfallenden Mantel einherschritt, das Gesicht von einem Saum blitzender Zähne erhellt, etwas Tragisches und Drohendes.
    Nach einer geraumen Weile hörte Stefan sich sagen: »Wie können die das tun und weiterleben?«
    Sie befanden sich bereits auf der unbeleuchteten Straße und hatten gerade den Steinbogen mit der verwischten Aufschrift hinter sich gelassen, der sich wie ein schwarzer Halbkreis gegen den Himmel abzeichnete. Wieder flackerte Licht auf; es war Hutka, der ihnen mit einem weit ausholenden Schwenken seiner Taschenlampe den Abschied gab.
    Dann brach die Finsternis über sie herein.
    Hinter der zweiten Kurve ließen sie die Landstraße links liegen und
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