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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes
Autoren: Louise Erdrich
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ich dachte, dass sie klemmte. Aber die Hintertür war tatsächlich abgeschlossen. Die Vordertür hatte ein Schnappschloss, daran hatte Clemence wahrscheinlich nicht gedacht. Ich holte den Schlüssel aus seinem Versteck und ging zögernd und leise ins Haus, ohne die Tür zuzuknallen oder meine Bücher auf den Tisch fallen zu lassen, wie ich es normalerweisetat. Normalerweise wäre meine Mutter noch nicht da gewesen, und ich hätte das Hochgefühl eines Jungen erlebt, der sein Zuhause betritt und weiß, dass er es zwei Stunden lang ganz für sich allein haben wird. Dass er sich selbst ein Sandwich machen kann. Dass es, wenn der Fernseher Empfang hat, vielleicht eine Nachmittagswiederholung gibt. Dass er Chancen auf Kekse oder andere Süßigkeiten hat, die seine Mutter nicht allzu gut vor ihm versteckt hält. Dass er im Elternschlafzimmer im Bücherbord stöbern kann, bis er zum Beispiel Hawaii von James Michener findet, in dem sich interessante, wenn auch letztlich nutzlose Details zu polynesischen Vorspieltechniken finden lassen … aber genug davon. Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, war die Hintertür abgeschlossen gewesen, und ich hatte den Schlüssel von dem Haken unter der Hintertreppe hervorgeholt, den wir sonst nur benutzten, wenn wir zu dritt von einer langen Reise zurückkehrten.
    Und so fühlte ich mich: als wäre ein einziger Schultag eine lange Reise gewesen, von der ich jetzt zurückgekehrt war.
    Die Luft im Haus wirkte abgestanden und seltsam flach. Es musste daran liegen, fiel mir ein, dass seit dem Tag, als wir meine Mutter in der Auffahrt gefunden hatten, niemand gebacken, gebraten, gekocht oder sonst irgendwie Essen gemacht hatte. Mein Vater kochte nur Kaffee, von dem er Tag und Nacht trank. Clemence hatte uns Aufläufe vorbeigebracht, die noch halb aufgegessen im Kühlschrank standen. Ich rief leise nach meiner Mutter und ging die halbe Treppe hoch, bis ich sah, dass die Tür zum Elternschlafzimmer zu war, und schlich wieder in die Küche zurück. Ich öffnete den Kühlschrank, goss mir ein Glas kalte Milch ein und trank einen großen Schluck. Die Milch war ekelhaft sauer. Ich kippte sie weg, spülte das Glas aus und trank von dem eisenhaltigen Wasser unseres Reservats, bis ich den Geschmack wieder los war. Dann stand ich da mit dem leeren Glas in der Hand.
    Durch die offene Tür war ein Teil der Esszimmergarnitur zusehen, ein rötlicher Ahornholztisch mit sechs Stühlen. Das Wohnzimmer war mit halbhohen Regalen davon abgeteilt. Die Couch stand direkt neben einer kleinen Kammer voller Bücherregale – dem Schlupfwinkel oder dem Arbeitszimmer meines Vaters. Ich stand da und spürte die enorme Stille in unserem kleinen Haus wie die Folge einer gewaltigen Explosion. Alles war zum Stillstand gekommen. Selbst das Ticken der Uhr. Mein Vater hatte sie ausgestöpselt, als wir am zweiten Abend aus dem Krankenhaus kamen. Ich will eine neue, hatte er gesagt. Ich stand da und starrte auf die alte Uhr, deren Zeiger bedeutungslos auf 11:22 stehengeblieben waren. Sonnenlicht fiel in goldenen Pfützen auf den Küchenboden, aber es war ein unheimliches Leuchten, wie die blendenden Strahlen hinter einer Wolke am westlichen Horizont. Grauen packte mich wie ein Trancezustand, wie der Geschmack von Tod und saurer Milch. Ich stellte das Glas auf den Tisch und rannte die Treppe hoch. Stürzte ins Elternschlafzimmer. Meine Mutter schlief so fest, dass sie mir, als ich mich neben ihr hinknien wollte, einen Schwinger verpasste. Ihr Unterarm traf mich mit betäubender Wucht am Kinn.
    Joe, sagte sie mit zitternder Stimme. Joe.
    Ich wollte auf keinen Fall durchblicken lassen, dass sie mir wehgetan hatte.
    Mom … die Milch war sauer.
    Sie ließ den Arm sinken und setzte sich auf.
    Sauer?
    Sie hatte noch nie die Milch sauer werden lassen. Meine Mutter war noch ohne Kühlschrank aufgewachsen. Sie hielt ihre heißgeliebte Errungenschaft peinlich sauber und war stolz darauf, wie frisch der Inhalt war. Sie hatte sogar auf einer dieser Partys Tupperware gekauft. Die Milch war sauer?
    Ja, sagte ich. War sie.
    Wir müssen zum Supermarkt!
    Ihre distanzierte Ruhe verschwand, und der blanke Horror stand ihr im Gesicht geschrieben. Seit die Blutergüsse an dieOberfläche gekommen waren, hatte sie dunkel geränderte Augen wie ein Waschbär. An ihren Schläfen pulsierte es kränklich grün. Ihr Kiefer war indigoblau. Ihre Brauen, die sonst Ironie und Liebe ausdrückten, waren jetzt vor Sorge erstarrt. Zwei senkrechte, wie mit einem
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