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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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Kapuzengewand. Der Kopf war so tief vorgebeugt, daß man das Gesicht nicht sah. Es schien fast, als küsse sie den Boden als Teil eines archaischen Begrüßungsrituals.
    »Na, endlich«, rief der Fahrer plötzlich, als vor ihnen eine Schneise sichtbar wurde. Dahinter lag, gebadet in den Strahlen der grellen Frühlingssonne, ein breiter Corso.
    Wenig später fuhren sie eine dichtbevölkerte Straße am rechten Tiberufer entlang. Mächtige Platanen beugten sich über die Fahrbahn, fast so devot wie die sonderbare Gestalt im Schatten des Torbogens.
    »Sie glauben mir nicht, oder?« fragte der Fahrer.
    »Daß Sie sich verfahren haben? Doch, natürlich.«
    »Daß ich mich vorher noch nie verfahren habe.«
    »Ist schon okay. Ich hab’s ja nicht eilig.«
    »Sie denken, ich lüge«, brummte der Junge beleidigt.
    Jupiter lächelte, gab aber keine Antwort. Statt dessen versuchte er einen Blick auf den Tiber zu erhaschen, doch der gemauerte Steinwall neben dem Fußweg versperrte ihm die Sicht. Erst als sie die Auffahrt einer Brücke kreuzten, sah er kurz die Wasseroberfläche aufblitzen, tief unten in ihrem künstlich begrenzten Bett aus Stein.
    Zu ihrer Linken standen hintereinander in kurzen Abständen drei Kirchen. Santa Maria del Priorato war die letzte. Das Taxi mußte von der anderen Seite heranfahren und durchquerte erneut ein Netz kleiner Sträßchen. Diesmal fand der Fahrer sein Ziel ohne Probleme.
    Jupiter bezahlte und stieg aus. »Denken Sie an den Bierdeckel, wenn Sie Ihre Freundin mal mitnehmen.«
    Der Junge ließ das Stück Pappe in einer Tasche verschwinden.
    »Grazie, Signore. Ciao.«
    »Ciao.« Jupiter zerrte seinen Koffer vom Rücksitz und warf die Tür zu.
    Der Junge winkte ihm im Davonfahren zu, so, als hätte die Irrfahrt durch den unbekannten Teil der Altstadt sie zu Freunden gemacht.
    Jupiter erwiderte die Geste, erstaunt über sich selbst. Dann wandte er sich kopfschüttelnd dem Kirchenportal zu und eilte mit weiten Schritten über den Vorplatz.
    Im Inneren des Gemäuers roch es, wie in allen alten Kirchen, nach Weihrauch, Wachs und Feuchtigkeit. Als Teenager hatte Jupiter sich gefragt, ob es hinter jedem Altar eine Dose mit Geruchsspray gab, so wie früher auf den Toiletten alter Tanten, die er als Kind an den Sonntagen besuchen mußte. Kirchenmuff statt Tannengrün, Kerzenrauch statt Gelber Limone.
    Auf der rechten Seite des Kirchenschiffs hatte man die Gebetsbänke beiseite geräumt. Dort erhob sich ein vierstöckiges Baugerüst, das die gesamte Seitenwand einnahm. Arbeiter waren nirgends zu sehen, auch keine Gläubigen, kein Priester.
    Das Gerüst erzitterte leicht, als auf der oberen Ebene Schritte laut wurden. Die Bretter und Stahlstangen vibrierten. Jeder Schritt klang laut und hohl durch das Kirchenschiff. Jupiter trat ein paar Meter zurück, um einen besseren Blickwinkel nach oben zu haben, doch noch immer konnte er niemanden sehen.
    Die Schritte waren nicht mehr zu hören, und eine schlanke Gestalt kletterte an einer seitlichen Leiter hinunter, flink wie eine junge Katze. Langes dunkles Haar fiel über den Rücken des Mädchens. Sie trug einen grauen Overall. Erst als sie die untere Ebene erreichte, erkannte Jupiter, daß der Stoff eigentlich blau war; die blasse Färbung rührte von Kalk und Staub, der ihren ganzen Körper überzog. Ihr Haar war von Natur aus rabenschwarz, aber jetzt hatte es einen Grauschimmer, der sie älter machte, als sie war.
    Coralina wandte ihm erst das Gesicht zu, als sie von der vorletzten Sprosse auf den Boden sprang. Sie lächelte. Seit damals war sie noch hübscher geworden. Das mochte daran liegen, daß er sich ihre Schönheit heute eingestehen durfte; damals war sie noch ein Kind gewesen, kaum fünfzehn Jahre alt.
    »Jupiter?« Sie trat auf ihn zu, blieb aber einen Schritt vor ihm stehen und musterte ihn mit einer Gelassenheit, die ihn irritierte. »Du bist drahtiger geworden in den letzten, wieviel, acht Jahren?«
    »Zehn.« Er grinste. »Hallo, Coralina.«
    Er stellte den Koffer ab, und da flog sie ihm auch schon um den Hals. Sie war leicht, er spürte ihr Gewicht kaum, und sie war fast einen Kopf kleiner als er. Als sie ihn wieder losließ, war sein Mantel mit grauem Staub überzogen.
    »Upps«, machte sie. »Tut mir leid.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Die Shuvani wird ihn waschen. Ist das mindeste, was sie für dich tun kann.«
    »Wie geht’s ihr?«
    »Wir sehen uns nach zehn Jahren wieder, und du fragst mich als erstes, wie es meiner
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