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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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Großmutter geht?« Coralina lachte. »Charmant.«
    »Du bist kein Teenager mehr. Daran muß ich mich erst mal gewöhnen.«
    Coralinas Augen blitzten. Sie waren dunkel, fast so schwarz wie ihr Haar und ihre schmalen Brauen. Ihre Eltern waren Roma gewesen, Zigeuner, die sie als kleines Kind ihrer seßhaften Großmutter überlassen hatten. Auch die Shuvani war Roma mit Leib und Seele, aber sie lebte jetzt seit mehr als fünfundzwanzig Jahren in der Hauptstadt, und ihr Volk behauptete, daß die Stadt den Menschen das Blut aussaugte. In den Augen ihrer Leute hatte die Shuvani das Leben auf der Straße abgestreift und war keine echte Roma mehr … auch wenn sie zweifellos noch immer so aussah und sich in die auffälligen Trachten und Stoffe ihres Volkes kleidete. Jupiter war sicher, daß sich daran in den letzten zwei Jahren, seit er Coralinas Großmutter zuletzt gesehen hatte, nichts geändert hatte. Beständigkeit war immer wichtig für sie gewesen.
    »Du warst in Florenz, als Miwa und ich die Shuvani besucht haben«, sagte er. »Sie wollte mir nicht mal ein Bild von dir zeigen. Die Fotos würden dir nicht gerecht, hat sie gesagt. Du weißt ja, wie sie ist. Aber ich schätze, sie hatte recht.«
    Sie nahm das Kompliment mit einem feinen Lächeln entgegen.
    »Ich bin vor einem dreiviertel Jahr zurück nach Rom gekommen. Seitdem wohne ich wieder im Haus der Shuvani, im Kellergeschoß.«
    »In dem alten Gästezimmer?« Beide verbanden mit diesem Raum eine bestimmte Erinnerung, aber Coralina ließ sich nicht verunsichern. Sie durchschaute die Herausforderung.
    »Das Gästezimmer gibt’s noch immer. Du wirst dort schlafen, wenn’s dir recht ist.« Sie strich sich eine lange Strähne hinters Ohr.
    »Ungestört«, fügte sie dann hinzu. »Ich trage keine Batiknachthemden mehr.«
    Jupiter war damals fünfundzwanzig gewesen, zehn Jahre älter als Coralina. Sein erster Auftrag hatte ihn nach Rom geführt, und es war sein erster Besuch bei der Shuvani gewesen. Coralina hatte sich mit jugendlicher Begeisterung in ihn verliebt und war eines Nachts im Gästezimmer aufgetaucht, nur in einem knappen Nachthemd mit gebatiktem Sternenmuster. Sie hatte ihm gestanden, wie sehr sie ihn mochte und daß sie mit ihm schlafen wolle. Jupiter hatte einmal heftig geschluckt, an ein langes Bad in Eiswasser gedacht und sie schweren Herzens fortgeschickt. Damals hatte er Miwa noch nicht gekannt, aber zu Hause wartete eine andere Freundin auf ihn; außerdem hatte er befürchtet, die Shuvani würde ihn hochkant aus dem Haus werfen, wenn er ihre heißgeliebte Enkelin verführte. Und obwohl ihm die Zurückweisung beileibe nicht leichtgefallen war, hätte er doch kein gutes Gefühl gehabt, mit einer Fünfzehnjährigen zu schlafen. Mit einem Mädchen zudem, das ihn gerade erst vier Tage kannte. Er hatte nie Zweifel gehabt, daß seine Entscheidung richtig gewesen war, auch wenn er noch Jahre später ein ganz schwaches Bedauern verspürte. Er hätte sich selbst belogen, hätte er das abgestritten.
    Und nun stand Coralina erneut vor ihm, zehn Jahre älter, eine bildhübsche junge Frau, und sie kokettierte mit jener Nacht im Gästezimmer, als hätte sie ihm damals versehentlich Rotwein aufs Hemd gespritzt.
    Um das Thema zu wechseln, deutete er auf das Gerüst an der Seitenwand der Kirche. »Dein Reich?«
    Sie nickte. »Na ja, zumindest für ein paar Tage. Ich hab vergangene Woche erst angefangen, die Grundsubstanz der Wand zu prüfen. Die Restauration wird ein paar Monate dauern, aber das ist dann nicht mehr meine Sache. Ich meine, klar, ich bin dabei, aber die Leitung hat jemand anders. Ich mache nur die Vorarbeit.«
    »Ziemlich verantwortungsvoller Job für jemanden, der gerade erst mit dem Studium fertig ist.«
    »Immerhin fast ein Jahr«, entgegnete sie. »Meine Noten waren ziemlich gut. Und ich hab eine abgeschlossene Steinmetzlehre. Die Kombination macht’s, schätze ich. Es gibt ja kaum noch traditionelle Steinmetze hier in der Gegend.«
    Die Shuvani hatte Jupiter erzählt, wie gut Coralinas Abschlußnoten gewesen waren. In Florenz hatte sie Kunstgeschichte studiert und war nebenher bei einem Steinmetz in die Lehre gegangen. Sie hatte beide Ausbildungen mit Auszeichnung abgeschlossen, trotz der zweifachen Belastung. In Anbetracht dessen war es vielleicht Glück, aber gewiß kein Zufall, daß sie gleich einen solchen Auftrag an Land gezogen hatte.
    »Die Shuvani hat mir erzählt, daß ihr meine Hilfe braucht«, sagte er und dachte: Wieviel auch immer
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