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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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man hin und wieder liest, diejenigen, die nie geheiratet haben, aber das Geld, das für Kinder gedacht war, erfolgreich an der Börse anlegten und jetzt niemanden haben, dem sie es vererben können.
    O Gott, denkt sie. Ist es schon so weit gekommen, dass ich hoffe, irgendwer möge irgendwo gestorben sein, nur weil mir das aus diesem Schlamassel heraushelfen könnte?
    Vielleicht hat jemand im Lotto gewonnen und eine anonyme Spende gemacht. Einer meiner Freunde. Einer jener Menschen, die ich früher gekannt habe, und der gehört hat, was uns zugestoßen ist, und helfen möchte …
    Sie bringt es jetzt nicht über sich, den Brief zu öffnen, weil sie tief in ihrem Innersten weiß, dass er weitere schlechte Nachrichten enthält, dass die Rettung nicht aus heiterem Himmel kommt. Sie hat das Gefühl, als renne sie ihr ganzes Leben, ohne jemals voranzukommen. Es scheint alles so zufällig zu sein. Immer wieder berichten die Zeitungen über Abfindungen von mehreren Millionen Pfund für Vorzeigefrauen, und sie steht da, kuvertiert die ganze Nacht und verteilt Reklamezettel, um den Unterhalt für das Kind aufzubringen, den ihr Mann nicht bezahlen will aus Protest, dass ihm das Recht verweigert wird, seine Tochter zu Tode zu ängstigen.
    Wir leben in einem Zweiklassensystem, denkt sie. Die Reichen und wir, der Rest.
    Klack. Plötzlich herrscht rings um sie Dunkelheit, weil ihre Stromkarte abgelaufen ist.
    »Scheiße«, sagt Bridget. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
    Warum passiert das ausgerechnet immer am Abend, wenn der einzige Laden, in dem man die Karte wieder aufladen kann, die Tankstelle an Streatham Hill ist, wo die Wahrscheinlichkeit, überfallen zu werden, genauso groß ist, wie dass du dir einen Riegel Mars kaufst?
    Weil du, sagt sie zu sich selbst, natürlich abends Strom brauchst. Und es passiert so häufig, weil du nie mehr als einen Fünfer übrig hast, den du dafür aufbringen kannst. Es liegt nicht etwa daran, dass die Welt sich gegen dich verschworen hat, so sehr du auch den Eindruck haben magst.
    Sie hält in jedem Zimmer Kerzen und Streichhölzer bereit, auf hohen Regalen, um sie von kleinen Händen fernzuhalten. Die nächste ist in der Küche, oben auf dem Schrank. Bridget tastet sich durch den Flur, stößt sich den Zeh an etwas an – wahrscheinlich an einem Spielzeug, das Yasmin liegen gelassen hat –, schmeißt etwas mit lautem Krach auf den dummerweise mit Schiefer gefliesten Küchenfußboden, den sie und Kieran damals vor ihrer Schwangerschaft hier verlegten, damals, als er ihr noch wie ein Traumprinz vorkam, als sie dachte, er würde hier einziehen und seine Wohnung als ersten Schritt die Eigentumsleiter hinauf vermieten. Wir wollten hier in zwei Jahren ausgezogen sein und ein Haus in Clapham bezogen haben, denkt sie. Nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich mir ausgemalt, dass die erste Wohnung, die ich mir vor zehn Jahren gekauft habe, jetzt mein Gefängnis sein würde. Ich bin schlechter dran als damals, als ich Anfang zwanzig war. Mit Anfang zwanzig hat der Weg zumindest ausschließlich nach oben geführt.
    Sie tastet an der Kante der Schranktür entlang und findet die Untertasse aus dem Trödelladen, die als Kerzenhalter dient.
    Beim Aufleuchten des Streichholzes erhascht sie einen flüchtigen Blick auf eine Gestalt in der Ecke. Zuckt mit klopfendem Herzen zusammen, lässt das Streichholz beinahe fallen. Es ist Kieran, natürlich. Immer Kieran. Immer da und beobachtet sie, lässt sich aus dem Augenwinkel sehen und wartet darauf, loszuspringen.
    Und wieder unterdrückt sie die Tränen, zum achten Mal heute, zum zwölftausendsten Mal, seit dem Tag, an dem sie ihn kennenlernte. Und dann bläst sie das Streichholz aus, lässt den Brief auf die Arbeitsfläche fallen, ignoriert die Schürze, die an ihrem Haken hängt, wo sie schon immer hing, und geht, um ihre Tochter abzuholen.

5
    Yasmin hat ihren Vater nicht vergessen. Manchmal kommt er zur Schlafenszeit, wenn sie spürt, dass der Schlaf sie gleich übermannt. Dann hört sie ihn auch sprechen, so, wie er früher gesprochen hat, so, wie er gewesen ist. Sie spürt seine Nähe, spürt, dass er die Decke um sie feststopft, um die Zugluft, die durch das Fenster über ihrem Bett eindringt, abzuhalten, spürt, dass seine Lippen flüchtig ihre Stirn, ihre Schläfe, den Haaransatz berühren, und hört ihn flüstern: »Gute Nacht, mein süßer Engel.« Und dann dreht sie sich halb im Schlaf auf die Seite und murmelt: »Gute Nacht, Daddy.« Und
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