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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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es nicht Sache des Steuerzahlers ist, Schnorrern wie ihr ein komfortables Dach über dem Kopf zu finanzieren, aber es kommt ihr auch nicht fair vor, dass das System abwartet, bis Familien auf der Straße stehen, um ihnen endlich zu helfen. Ich bin nur eine Nummer in der Statistik, denkt sie, genau das bin ich. Etwas, was man bei Parteitagen anführt, um die Schuld am Zustand der Jugend in diesem Lande anderen in die Schuhe zu schieben.
    Heute ist sie insgesamt zwölf Stunden auf der Straße unterwegs, und ihre Finger und Knie sind schon ganz verkrampft, weil sie schon so lange die gleiche Haltung einnehmen. Sie weiß, sie sollte dankbar sein, in ihren Verhältnissen überhaupt noch ein Auto zu haben, auch wenn es schon zehn Jahre alt ist und die Türdichtungen kaputt sind, aber sie vermisst ihren kleinen Mercedes mit seinem Geschwindigkeitsregler und dem leichtgängigen Getriebe, den sie schon längst verkauft hat, um die Hypothek ein paar Monate weiter bezahlen zu können. Sie spürt, wie sich die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen in ihrem Nacken ankündigen. Sie ist lange Fahrten über die Autobahn nicht gewöhnt, und die Kombination aus ihrer Angst vor starken Geländewagen und ihrer Sorge, das Auto könnte die Strecke nicht durchhalten, hat die Muskeln zwischen ihren Schulterblättern steinhart werden lassen. Sie zieht sich am Geländer die Treppe hinauf, als wäre sie achtzig. Sie hasst diese Treppen, die sie jahrelang treppauf, treppab gelaufen ist, Kind und Buggy, Tüten, Handtaschen und Windelpackungen jonglierend.
    Dumpfe Bässe dringen durch die geschlossene Tür der Wohnung im Erdgeschoss. Das wird bis in die frühen Morgenstunden so weitergehen, es sei denn, die Bewohner gehen aus in einen Club und gönnen ihren Nachbarn bis vier oder fünf Uhr am Morgen ein paar Stunden Ruhe. Das Schlimmste am Jungle, denkt sie, ist die Tatsache, dass er ohne Unterbrechung dröhnt. Das und die Tatsache, dass er diejenigen, die sich das anhören, offenkundig taub macht. Oder egoistisch. Kann Musik die Persönlichkeit verändern? Sie hält das durchaus für möglich. Die Bewohner reagieren weder auf das Klopfen gegen die Tür noch aufs Klingeln. Und sie hat sie in dem einen Jahr, das die inzwischen hier wohnen, noch nie zu Gesicht bekommen. An Verkehrslärm, selbst an einen plärrenden Fernseher, kann man sich gewöhnen, aber an Jungle … die wenigen Sekunden, die er aussetzt, wenn man den Eindruck hat, das ganze Haus halte den Atem an in der Erwartung, dass er dauerhaft aufhört, und die hörbaren Seufzer der Verzweiflung, wenn der Beat wieder einsetzt.
    Manchmal fragt sie sich, ob die Musik nicht über eine Zeitschaltuhr läuft, die ein ausgebuffter Bauträger in der Absicht installiert hat, langjährige Bewohner wie Carol zu vertreiben. Nur die große Zahl an schwarzen Müllsäcken, die am Tag, wenn der Müll abgeholt wird, draußen liegen, überzeugt sie davon, dass überhaupt jemand in dieser Wohnung lebt.
    Sie hat die Heizung den ganzen Tag ausgestellt – jeder Penny zählt schließlich –, und die Wohnung ist kalt und feucht, als sei sie verwahrlost. Man fühlt sich hier mehr wie im Keller als in der zweiten Etage. Bridget lässt ihre Schlüssel auf den mit Stoff überzogenen Karton fallen, der als Dielenkonsole dient, seit sie die richtige letztes Jahr verkauft hat, um die Gasrechnung zu bezahlen, sie blättert die Handvoll Briefe durch, die sie zusammen mit der Karte des Gerichtsvollziehers von der Fußmatte aufgehoben hat. Das übliche Sorgenbündel. Die Raten fürs Wasser: überfällig. Gemeindesteuer – sie ist besonders sauer, dass sie Geld, das sie gar nicht hat, berappen muss, um sich die Moralpredigten und verdammten Hilfsangebote der Sozialarbeiter anzuhören. Fernsehgebühren. Sie verzieht das Gesicht. Zumindest, denkt sie, brauche ich die nicht mehr bezahlen, sobald der Gerichtsvollzieher den Fernseher mitgenommen hat. Da ist noch ein Brief, von unbekannter Art. Schwerer cremefarbener Umschlag mit Wasserzeichen, länger und schmaler als gewöhnlich, und die Adresse ist auf das Papier gedruckt anstatt, wie es sonst meist der Fall ist, durch ein Plastikfenster hindurchzuscheinen.
    Sieht aus wie ein Anwaltsschreiben, denkt sie.
    Ihr Herz macht einen Sprung.
    Jemand ist gestorben.
    Sie dreht den Umschlag und betrachtet die Rückseite, als würde ihr diese einen Hinweis auf den Inhalt liefern.
    Vielleicht, denkt sie, ist es jemand, den ich nicht kenne; einer der entfernten Verwandten in Kanada, von denen
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