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Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Autoren: Katherine Webb
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Canning, will dich sehen, sobald du dich frisch gemacht und umgezogen hast.«
    »Umgezogen?«
    »Ja, umgezogen! Oder wolltest du dich ihr etwa in diesem zerschlissenen Rock vorstellen, mit schmuddeligen Bündchen an deiner Bluse und ausgefransten Schnürsenkeln?« Mrs. Bells graue Augen sind tatsächlich sehr scharf.
    »Ich habe eine zweite Bluse, meine beste, die kann ich anziehen, aber dieser Rock ist der einzige, den ich habe«, sagt Cat.
    »Sie haben dich doch in London gewiss nicht so im Haus herumlaufen lassen!«
    »Da hatte ich eine Uniform. Ich … musste sie zurück geben.«
    Mrs. Bell stemmt die Hände dahin, wo eigentlich ihre Taille hätte sein sollen. Cat hält ihrem Blick unverwandt stand und weigert sich, sich einschüchtern zu lassen. Die Fingerknöchel der älteren Frau sind rot und rissig. Sie versinken in ihren fleischigen Händen, als wären sie dort eingeklemmt. Ihre Füße sind nach innen gekippt, die Wölbung unter dem Spann hat sich schon vor langer Zeit dem Gewicht ergeben müssen, das darauf lastet. Ihre Knöchel sehen aus wie Plumpudding-Teig, mit deutlich sichtbaren Dellen unter den Strümpfen. Cat verschränkt die Hände vor sich und spürt die beruhigende Härte ihrer Knochen.
    »Tja«, sagt Mrs. Bell schließlich, »die Herrin wird entscheiden, ob sie dich mit Kleidung ausstatten will. Ansonsten wirst du dir irgendwie behelfen müssen. Du brauchst ein graues oder braunes Kleid für den Tag, ein schwarzes für abends und etwas für die Kirche. Nächste Woche ist Lumpenmarkt in Thatcham. Vielleicht findest du dort etwas, das du umarbeiten kannst.«
    Cats Zimmer befindet sich auf dem Dachboden. Es ist einer von drei nebeneinandergelegenen Räumen, mit kleinen Mansardenfenstern nach Norden. Man erreicht sie durch einen hellen Flur mit Fenstern zur Südseite hin, als wäre der Architekt der Meinung gewesen, ein Flur verdiene mehr Sonnenlicht als die Dienstboten. Cat stellt ihre Reisetasche am Fußende des Bettes ab und mustert ihr neues Heim. Schlichte, weiß getünchte Wände, ein kleines eisernes Bett mit einem Messing-Kruzifix darüber, eine Bibel auf einem Korbstuhl, Waschtisch, fadenscheinige Vorhänge. Außerdem ein schmaler Kleiderschrank und eine bunte Steppdecke, am Fußende des Bettes zusammengefaltet. Cat durchquert den Raum mit ein paar raschen Schritten, reißt das Kruzifix von der Wand und schleudert es unters Bett. Mit einem melodischen Scheppern trifft es den Nachttopf. Cat hat das Gefühl, dass ihre Finger an den Stellen brennen, die die glatten Arme des metallenen Kreuzes berührt haben. Hastig wischt sie sich die Hände am Rock ab, schließt die Augen und wehrt sich gegen die Erinnerungen an ein ganz ähnliches Objekt. Auch damals hatte Jesus sie von einer hohen Wand herab beobachtet, ungerührt von ihrer Qual. Dann tritt sie ans Fenster und schaut auf die Landstraße und eine Weide mit rötlich braunen Kühen hinaus. So viel weiter, leerer Raum. Sie denkt an ihre Freundinnen in London, an Tess mit ihren neugierigen grünen Augen, die immer irgendetwas unglaublich spannend findet. Der Gedanke tut ihr weh. Sie hat keine Adresse, an die sie schreiben könnte, nicht einmal eine Ahnung, wo Tess schließlich landen wird. Womöglich würde ihre Freundin anders als sie keine neue Stellung finden. Ich kann mich glücklich schätzen, denkt Cat verbittert. Das hat man ihr in letzter Zeit zumindest oft genug gesagt.
    Die Tür hinter ihr fällt zu, bewegt von einem nicht bestimmbaren Luftzug. Cat erstarrt, ihr ganzer Körper verkrampft sich. Stocksteif steht sie da und versucht zu atmen, obwohl ihr die Luft plötzlich viel zu dick erscheint. Sie ist nicht abgesperrt, sagt sie sich. Nur geschlossen. Nicht abgesperrt. Langsam dreht sie sich zur Tür um, gefasst, als warte dort etwas Schreckliches auf sie. Die Wände der kleinen Kammer neigen sich nach innen, bedrängen sie, kleben an ihr wie ein großes, nasses Laken. Ihr zittern die Knie, und sie nähert sich der Tür so wackelig wie eine alte Frau. Als sie nach dem Knauf greift, ist sie sicher, dass sie die Tür nicht wird öffnen können. Der metallene Griff klappert in ihrer Hand, als sie daran dreht, und sobald sie die Tür ein paar kostbare Fingerbreit geöffnet hat, wird ihr klar, dass nur ihr Zittern den Knauf hat wackeln lassen. Das Blut rauscht in ihren Ohren, und sie lehnt sich mit dem Gesicht an das schartige Holz der Tür, wartet ab, bis sie sich ein wenig ruhiger fühlt. Nie wieder, denkt sie. Nie, nie wieder .
    Hester
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