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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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» Ich kümmere mich um Madame Rose. Sie ist nicht allein.«
    Verächtlich warf Alexandrine den Kopf zurück. Ich war froh zu sehen, dass wieder etwas Leben in sie zurückgekehrt war.
    »Sie?«, höhnte sie.
    »Ja, ich«, versetzte er ziemlich würdevoll und streckte sich zu seiner vollen Größe aus.
    »Aber dann sind Sie doch bestimmt mit mir einer Meinung, Monsieur, dass Madame Roses Plan, bis zum Ende hier im Haus zu bleiben, der pure Wahnsinn ist!«
    Er zuckte mit den Schultern, wie immer.
    »Das ist Madame Roses Entscheidung. Das muss sie ganz allein wissen.«
    »Wenn Sie so denken, Monsieur, dann hegen wir wohl kaum dieselben Gefühle für Madame Rose.«
    Er packte sie am Arm und baute sich bedrohlich vor ihr auf.
    »Was wissen Sie schon von Gefühlen«, fauchte er, »Sie, die Sie immer in einem sauberen Bett geschlafen und nie Hunger gelitten haben? Das sittsame Fräulein mit der feinen Nase in duftenden Blütenblättern! Was wissen Sie schon von Liebe, von Kummer und Leid? Was wissen Sie von Leben und Tod? Ich höre.«
    »Lassen Sie mich bloß in Ruhe«, maulte sie und stieß ihn weg. Sie ging zur anderen Seite der kahlen Küche und drehte uns den Rücken zu.
    Dann gab es ein langgezogenes Schweigen. Ich beobachtete die beiden seltsamen Wesen, die in den letzten Jahren so einen bedeutenden Raum in meinem Leben eingenommen hatten. Ich wusste nichts von ihrer Vergangenheit, kannte ihre Geheimnisse nicht, und dennoch schienen mir beide merkwürdig ähnlich zu sein in ihrem Einzelgängerdasein, in ihrer Lebenseinstellung, ihrem äußeren Erscheinungsbild. Groß, dünn, schwarz gekleidet, blasses Gesicht, krauses dunkles Haar. Dasselbe Leuchten in ihren hellen Augen. Dieselben verborgenen Wunden. Woher hatte Gilbert sein lahmes Bein? Wo wurde er geboren, wer war seine Familie, wie lautete seine Geschichte? Und warum war Alexandrine immer allein? Warum sprach sie nie über sich selbst? Ich würde es wohl nie erfahren.
    Ich streckte jedem eine Hand hin. Ihre Hände lagen kalt und trocken in meinen.
    »Bitte streitet euch nicht meinetwegen«, sagte ich ganz ruhig. »Ihr beide bedeutet mir so viel in diesen letzten Stunden.«
    Wortlos nickten sie, sahen mich dabei aber nicht an.
    Der Tag war nun angebrochen, klar, fahlhell und klirrend kalt. Zu meiner Überraschung reichte mir Gilbert den Wintermantel und die Pelzmütze, die ich in jener Nacht getragen hatte, als er mich auf einen Streifzug durchs Viertel mitgenommen hatte.
    »Ziehen Sie das an, Madame Rose. Und holen auch Sie Ihren Mantel, Mademoiselle. Packen Sie sich warm ein.«
    »Wohin gehen wir?«, fragte ich verwundert.
    »Nicht weit. Nur für etwa eine Stunde. Wir müssen uns beeilen. Vertrauen Sie mir. Es wird Ihnen gefallen. Und Ihnen auch, Mademoiselle.«
    Widerstandslos tat Alexandrine, was er ihr sagte. Ich glaube, sie war zu müde und zu aufgebracht, um einen neuen Streit anzufangen.
    Draußen strahlte die Sonne wie ein eigenartiges Juwel, niedrig und fast weiß hing sie am Himmel. Die Kälte war so durchdringend, dass ich spürte, wie sie mir bei jedem Atemzug in die Lungen schnitt. Ich konnte es nicht noch einmal ertragen, die teilweise zerstörte Rue Childebert anzusehen, also hielt ich den Blick gesenkt. Gilbert eilte uns in die Rue Bonaparte voraus, er humpelte stark. Die Straße war verlassen. Ich sah keine einzige Menschenseele, nicht einmal eine Droschke. Das fahle Licht und die kalte Luft schienen alles Leben erstickt zu haben. Wohin brachte er uns? Wir hasteten weiter, ich hatte mich bei Alexandrine untergehakt. Sie zitterte am ganzen Leib.
    Wir kamen zum Flussufer. Dort erwartete uns ein ganz ungewöhnlicher Anblick. Erinnerst Du Dich an den bitterkalten Winter, bevor Violette geboren wurde? Damals haben wir an dieser Stelle gestanden, zwischen dem Pont des Arts und dem Pont Neuf, und hatten zugesehen, wie riesige Eisschollen vorbeitrieben. Nun aber war die Kälte so streng, dass der ganze Fluss zugefroren war. Gilbert führte uns an die Kais, wo ein paar Kähne reglos im Eis feststeckten. Ich zögerte, wollte zurückgehen, aber Gilbert drängte mich, ihm zu vertrauen, und das tat ich.
    Der Fluss war von einer dicken, unebenen grauen Eisschicht bedeckt. So weit ich mit einem Blick hinüber auf die Île de la Cité sehen konnte, gingen Leute auf dem Eis spazieren. Ein Hund rannte ausgelassen hin und her, er hüpfte und bellte, manchmal glitt er aus. Gilbert mahnte mich, sehr vorsichtig zu sein. Alexandrine lief jauchzend voraus, begeistert wie
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