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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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»Schön war’s da.« Offenbar war es da so schön gewesen, dass sie nun weinen musste. Irgendwie beruhigte ihn das, und er legte seine Angst auf den Schnullistapel. Dann packten sie Polinas Bräter, Vaters und sein Rasierzeug, das Dylan-Songbook, die Mundharmonika und den schweren Kristallaschenbecher ein. Das Fotoalbum würde er im Handgepäck mitnehmen, ebenso wie einen Zungenschlag und ein paar Worte: gaupeln, Bimmel, groggy, Nieselpriem, mausen, Fisimatentchen, Forsützschen, Ganker, nischeln.
    Irgendwann einmal, dachte er und denkt es wieder, sollte ich alles ganz genau auflisten. Die Dinge, die Worte und die Gefühle. Wer was gewonnen und wer was verloren hat. Eva hat zwanzig Kilo und ein neues Kind gewonnen, aber ihre Tochter, ihren Mann, ihre langen Haare und ihren adoptierten Sohn verloren. Sein Vater hat seinen Ausweis, das Auto, seine Frau, seine adoptierte Tochter, sein Haus, seinen Bart und seine Locken und zwanzig Kilo verloren, dafür seine Freiheit gewonnen. Er hat einen Jungen verloren und wird einen jungen Mann zum Sohn gewinnen. An dem wäre es, sein altes, nicht mehr beschlagnahmtes Heft hervorzuholen, zwei neue Spalten anzulegen und in die eine den ganzen Mist und in die andere all das Schöne zu schreiben. Ein richtiger Mann wäre dazu in der Lage. Jeden Buchstaben würde der sich vornehmen, das Himmels-V der Zugvögel, das Monogramm der Mutter, das X und das P der Grabsteine, das Alpha und das Omega vom Schal des Pfarrers, die kyrillischen Ameisen und die Umlaute, die heimlich über dem Propheten Mose schweben. Im Heft dieses Mannes – besser wäre gleich ein ganzes Buch – würde alles wie neu stehen, wie zum ersten Mal erlebt. An jede Einzelheit, die niemand sonst gesehen hat, würde sich der Mann erinnern: wie Mädchen beim Engtanzen gucken, wie Frau Schreibers Rock schwingt, wie das Lid seines Vaters zuckt, als er sagt: »Bella, sieh mich noch ein letztes Mal an«, wie Eva starrt, als sie antwortet: »Ja, das ist das Kind, das du nicht mit mir haben wolltest«, wie Grenzsoldaten frisiert sind, was auf Leos Spiegel steht. Ein richtiger Mann würde all das aufschreiben und festhalten, und nichts und niemand würde ihm etwas anhaben können. Ein Satz wäre ihm eine Räuberleiter, auf einem Strich würde sein Gedanke verweilen, hinter einem Komma würde er mit einem Wasserfall in die Tiefe rauschen oder mit einem Zug durch die Nacht. Auf diese Art würde er es ihnen zeigen, denen, die alles vorsagen oder nachsagen oder falsch sagen oder gar nicht sagen. Die glauben, ihm das Leben geschenkt zu haben, obwohl er ihnen das Leben schenkt, wenn er an sie denkt und über sie schreibt. Allerdings fürchtet er, dass ihm der Mumm dazu fehlen wird, so wie er ihm vor einem halben Jahr gefehlt hat.
    Eine Schüssel mit Weckwasser hatte er sich neben das Bett gestellt, um besser aus den Federn zu kommen. Doch morgens um vier war das Wasser gefroren, der Waschlappen war ein toter Fisch. Mit größter Mühe verließ er sein warmes Bett und zog sich nach Vorbild der Zwiebel an: Skiunterwäsche, zwei Paar Hosen und fünf Lagen Oberbekleidung – Schicht auf Schicht. Die ganze Fahrt über hütete er seine Zunge, die Scheibe des Abteilfensters war vereist. Die Strafvollzugsanstalt besaß eine eigene Straßenbahnhaltestelle. Ein paar Gestalten stiegen aus und gingen im Takt des Moorsoldatenlieds auf das große Backsteingebäude zu. Hinter ihnen stand ein dunkelgrün lackierter T-34 auf einem Podest. Auch dieses Zuchthaus hatten die sowjetischen Soldaten befreit. 1798 Antifaschisten waren darin geköpft oder erhängt worden. Die Kälte war jetzt unerheblich. In einem Vorbau zeigten sie ihre Besuchsdokumente und ihre Personalausweise vor. Sie wurden einbehalten, ebenso wie die Handtasche, aber nicht ihr Portemonnaie. Dann mussten sie warten, dann wurden sie über Pflastersteine geführt. Im Sprecherraum standen acht Tische. Daran nahmen andere Ehefrauen, Verlobte, Mütter und nur ein Sohn Platz, der sich das Schielen verbot. »Geh bitte und hol einen Tee für deinen Vater«, sagte seine Stiefmutter und gab ihm ihre Geldbörse. An dem kleinen Kiosk in der Ecke des lang gestreckten Raums kaufte er einen Pfefferminztee, der nicht in einer Blech-, sondern in einer Porzellantasse aufgegossen wurde. Im Sichtfenster ihres Portemonnaies steckten drei Passbilder: eines von Leo, eines vom Vater und eines von ihm. Er wusste, dass Häftling und Besucher manchmal Kassiber austauschten, also hatte er eine Überraschung für
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