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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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große und mächtige Gottheit, doch keiner weiß, was sie verdammt noch mal will, sagt Herr Mittwoch, sich selbst zitierend. »Spinat ist mein Hobby«, erklärt Siegmar zur Feier seiner Verlobung. Seit dem Sommer sind die Russen in Prag. Er selbst hat auf dem Weinfest an der Unstrut eine kenneng elernt, an die muss er immerzu denken, und dieses Denken erwärmt ihn. Fünfzehn Jahre und zwei Monate zuvor rücken die Russen über die Karl-Heine-Straße aus. Siegmar ist drei und immer hungrig. Er, der mittlere Bruder, muss Magermilch holen. Es ist sein siebter Geburtstag, und ihm zittern die Knie. Eben noch hat er die Alukanne am langen Arm kreisen lassen, dann hält er lediglich den Henkel in der Hand. Die Kanne fliegt auf die Karl-Heine-Straße und wird von einem Panzer geplättet wie eine Münze vom Fernzug. Er trägt kurze Hosen und kann sehen, wie seine Knie zittern. Die T-34 sind die besten Tanks der Welt. Kein Rotarmist mit Gummiperücke zeigt sich im Turm. Das vergisst du nie: Wenn eine Kolonne Panzer an dir vorbeidonnert, Armeslänge entfernt. Als der Panzerzug fort ist, lässt er das Blech auf der Straße liegen und trägt den Henkel nach Hause, mit dem er trotz seines Geburtstags verdroschen wird. An den Dingen kleben Zettel: Schüssel, Stuhl, Topf, im September wird er eingeschult. Abends kommt Rudolf nach Hause, Staub und Röte im Gesicht. »Mir ham gegen die Russen gekämpft«, prahlt er, »die komm’ so schnell nicht wieder, die roten Schweine.« Jetzt kriegt auch er Dresche, zwei Tage lang hat er Mutters Finger im Gesicht. Im März hat das Herz des großen und weisen Vaters der Sowjetvölker aufgehört zu schlagen. Was macht eigentlich das Herz des Zwillingsbruders seines Vaters? Mit fünfzehn denkt er bloß noch an den Kopf des Zwillingsbruders seines Vaters, denn in Rudolfs Schädel hat sich ein Schalentier eingenistet. Plötzlich hat auch er Kopfschmerzen, rasende Kopfschmerzen. Er will nach Gesundbrunnen fahren, damit es aufhört, dafür steht doch der Name. Es geht aber nicht, weil jemand die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten. Gerade hat er von Rudolf das Zimmer unterm Dach geerbt, in dessen Gebälk sommers die Hitze, winters die Kälte und immerzu der Holzwurm hockt. Er schreit seine Mutter an: »Ich habe es auch, das Krebstier! Aber ich will noch nicht sterben!« – »In Herrgotts Namen, schweig still!«, sagt seine Mutter. »Du dämlicher Bengel musst dir keine Sorgen machen.« – »Ich habe es auch geerbt!«, ruft er. »Nein«, sagt sie nur, und er ist sofort ruhig. Alles Kopfsache. Zwei Jahre später geht er in die Elfte. Die Butlers werden verboten, horch. Als Ordner verkleidet, kann er sich unter die Demonstranten mischen. Bullenwagen fahren am Leuschnerplatz auf. »Bürger der Stadt Leipzig, geht nach Hause! Versammlungen sind verboten!« Pfiffe, Rufe, Steine. Hundestaffeln und Wasserwerfer rücken an. Er flieht durch die Innenstadt und versteckt sich im Eingang des Capitol. Am nächsten Tag fehlen ein paar Jungs aus seiner Penne. Zwei Wochen später kommen sie zurück, kahl geschoren und stumm. »Du warst für diese Welt zu schade«, lässt er in den großen Grabstein seiner ersten Frau meißeln. Die Worte schimmern golden. Seine zweite Frau sollte auch ein Denkmal erhalten, eins ohne Worte. Die Uhr im Speisesaal rückt vor, und Pfeiffer, genannt Wecker, fällt so weit ab von der Norm, dass er ins Reichsbahnwerk gesteckt wird. Er sitzt eine milde Strafe ab, kann aber nicht abschalten. Er kann sich nicht die Erinnerung versagen, kann nicht verhindern, dass seine Gedanken in schlecht beleuchtete Gassen geraten und seine Arme unter die Räder. Er ist der dritte Unfalltote in diesem Jahr, das noch nicht mal zur Hälfte aufgebraucht ist. Doch eines Morgens ist der Sommer vorbei, obwohl man ihn gerade erst ausgerufen hat. Man merkt es an der Luft, am Licht über dem Freihof, die Hunde sind still, irgendwas ist umgeschlagen, und dann denkt man, so schnell vorbei, aber in dem Moment, wo man es denkt, fängt der Sommer noch mal an, der Altweibersommer. Er muss zur Leibesvisitation, zweimal, wer kauft schon beschädigte Ware. Der Kleine Gatsby sagt: »Du wirst uns vermissen, Mittwoch, da bin ich mir sicher.« Die Tür wird aufgerissen, und der Schließer Abdullah schreit: »Strafgefangener Friedrich, raustreten!« Zu dritt springen sie auf. Wie sonderbar, dass noch jemand so heißt wie er. Der Schließer winkt ab und sagt: »Der politische Friedrich!« Aber der linke Fuß des politischen
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