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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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nicht gäbe, hat sie gesagt, müßte man Dich erfinden.
     
    Mach’s gut, alter Gangster, und halt die Ohren steif.
     
     
    Dein Blutsbruder

28. Große Ferien
    Entscheidend beim Klimmzug ist das Masse-Kraft-Verhältnis: Wer wenig wiegt und Muskeln hat, der schafft es spielend leicht. Wer ohne Mumm und schwer ist, muss sich plagen. Der letzte Tag muss sich plagen. Mühsam zieht er sich am Wetterschenkel hoch, und mühsam klettert er aufs Dach. Das Licht reicht nicht in die Zimmerecken. Die Wände sind kahl, abgenommen sind die Medaillen und der Kaugummi, die Matrjoschkas sind verfrachtet, die Poster verteilt. Das Loch im Kaminzug ist mit Zeitungspapier ausgestopft, es riecht nach Ruß. Vom Ofen ist nur noch ein Betonsockel übrig. An der Wand stehen drei grob gezimmerte Kisten, auf denen in Schablonenschrift » VEB Deutrans« und »Internationale Spedition« steht. Obenauf liegen seine Reisedokumente und das schwarz eingebundene Fotoalbum, die Kisten sind vernagelt. Er ist wach, aber das Haus schläft noch. Es ist ein halbes Haus, in dem mal eine halbe Familie gelebt hat und für kurze Zeit eine fast ganze. Die Großmutter schlief im Wohnzimmer auf dem ausgezogenen Sofa, der Vater schlief im ersten Stock, im Bett in der Bücherwand, für eine Weile schlief er da zusammen mit seiner Frau. Deren Tochter hatte ein eigenes Zimmer, darin stand auch ein großer Kleiderschrank. Und dann gab es noch einen Kater, der schlief manchmal zu seinen Füßen.
    Onkel Siegmar hat ihn gedrängt, die letzten Tage bei ihnen im Neubauviertel zu wohnen. Das Haus sei eine Baustelle und ein Spukschloss. Das würde ihm nichts ausmachen, hat er geantwortet, es sei doch gut, wenn es einen Mann im Haus gäbe, der auf alles aufpasse, und Siegmar hat ihn gelassen.
    Bevor er die Beine aus dem Bett schwingt, zieht er die Porträts vom Baldachin. Es sind viele geworden: Vaters, Leos, Evas, sein eigenes, Falks, Kerstins, Polinas, Katjas. Er nimmt die Tube Kittifix, die Eva aus den Effekten seines Vaters zurückerhalten hat, und klebt die Bilder doch nicht in sein Album. Das Album ist randvoll, er könnte die Bilder auf die knisternden Zwischenseiten heften. Stattdessen legt er sie weg. Gestern musste er sich eine Identitätsbescheinigung ausstellen lassen, zum Glück besaß er noch ein Passbild. Er musste auch zu Frau Dornbusch gehen und um eine Kopie seines Zeugnisses bitten, damit er sich um einen Platz auf dem Gymnasium bewerben kann. Mit seinem Notendurchschnitt werde er sich in dieser Leistungsgesellschaft nur auf dem Abstellgleis wiederfinden, hat sie gesagt. Am 6. Juli war sein letzter Schultag auf der 8. Polytechnischen Oberschule Hedda Zinner, und im Tilman-Riemenschneider-Gymnasium zu Bad Itz fängt der Unterricht erst am 17.   September an. Vor ihm liegen die längsten Ferien, die er je hatte. Den bereits ausgefüllten und von Schreibwaren Rathenow abgestempelten Schulbuchzettel für die Neunte hat er in eines seiner Bücher gelegt. Titel der Originalausgabe: »Deux ans de vacances«. Er wird Französisch lernen müssen. Vielleicht wird ihm der Zettel im Westen mal entgegenfallen, in zehn oder zwanzig Jahren.
    Er zieht seine Laufschuhe an. Die Treppe beantwortet jeden seiner Tritte. Die Küche ist leer. Tisch und Anrichte stehen im Keller, die Fliesen sind abgeschlagen, sein Spähloch ist verputzt, und bis zur Höhe der Hüfte ist die Tür zum Wohnzimmer vermauert, weil sich Tante Inge eine Durchreiche wünscht. Die Wachstumsstriche sind verschwunden.
    In der Identitätsbescheinigung, die er zum Verlassen des Landes benötigt, stehen sein Name, sein Geburtstag und -ort. Staatsangehörigkeit und besondere Kennzeichen: keine. Fast berührt der Wappenstempel seine Wange.
    Er durchquert den Vorgarten, in dem ein Betonmischer neben einem Sandhaufen steht, er öffnet die Pforte, die leise scheppert, und als er sie schließt, scheppert der nun braun gestrichene Briefkasten, auf dem bloß Polinas und Siegmars Name zu lesen ist. In der Garage warten die anderen Holzkisten darauf, abgeholt zu werden. Den meisten Platz beanspruchen Vaters Bücher. Zusammen mit Eva hat er sie sortiert. Mit geschwollenem Bauch und geschwollenen Beinen, das Haar kurz geschnitten und den Pony schief, saß sie in Vaters Sessel und empfahl, welche Bücher in die Kisten und welche auf den »Schnullistapel« gehörten. »Krieg und Frieden«, »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, »Collin«, »Lewins Mühle«, das Wörterbuch Englisch-Deutsch aus dem VEB Verlag
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