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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft
Autoren: Agota Kristof
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geworden, und später ist sie taub geworden. Sie sagt, mir wird es genauso gehen. Habt ihr meine Lider gesehen? Morgens, wenn ich aufwache, sind meine Lider verklebt, meine Augen sind voller Eiter. 
    Wir sagen:
    - Das ist bestimmt eine Krankheit, die die Medizin heilen kann.
Sie sagt:
- Vielleicht. Aber wie soll ich ohne Geld zu einem Arzt gehen? Außerdem gibt es keinen Arzt. Sie sind alle an der
Front.
Wir fragen:
    - Und deine Ohren? Tun dir die Ohren weh?
    - Nein, mit meinen Ohren habe ich keine Probleme. Und ich glaube, auch meine Mutter nicht. Sie tut so, als ob sie nichts hört, das ist bequem für sie, wenn ich ihr Fragen stelle.

Übung in Blindheit und Taubheit
    Einer von uns spielt den Blinden, der andere spielt den Tauben. Zur Einübung bindet anfangs der Blinde ein schwarzes Kopftuch von Großmutter um seine Augen, der Taube verstopft sich die Ohren mit Gras. Das Tuch stinkt wie Großmutter.
    Wir geben uns die Hand, wir gehen während des Alarms spazieren, wenn die Leute sich in den Kellern verstecken und die Straßen leer sind. Der Taube beschreibt, was er sieht.
    - Die Straße ist gerade und lang. Sie ist von niedrigen einstöckigen Häusern gesäumt. Sie sind weiß, grau, rosa, gelb und blau. Am Ende der Straße sieht man einen Park mit Bäumen und einem Brunnen. Der Himmel ist blau mit ein paar weißen Wolken. Man sieht Flugzeuge. Fünf Bomber. Sie fliegen tief.
    Der Blinde spricht langsam, damit der Taube von seinen Lippen lesen kann:
    - Ich höre die Flugzeuge. Sie erzeugen ein ruckartiges, tiefes Geräusch. Ihr Motor müht sich. Sie sind mit Bomben beladen. Jetzt sind sie weg. Ich höre wieder die Vögel. Sonst ist alles still.
    Der Taube liest von den Lippen des Blinden und antwortet:
- Ja, die Straße ist leer.
Der Blinde sagt:
- Nicht mehr lange. Ich höre Schritte kommen in der Seitenstraße, links.
Der Taube sagt:
    - Du hast recht. Da ist er, es ist ein Mann. 
    Der Blinde fragt:
    - Wie ist er?
Der Taube antwortet:
- So wie alle. Arm, alt.
Der Blinde sagt:
    - Ich weiß. Ich erkenne den Schritt der Alten. Ich höre auch, daß er barfuß geht, also ist er arm. 
    Der Taube sagt:
    - Er ist kahl. Er trägt eine alte Armeejacke. Er trägt zu kurze Hosen. Seine Füße sind schmutzig. 
    - Seine Augen?
    - Ich sehe sie nicht. Er blickt zu Boden. 
    - Sein Mund?
    - Zu eingefallene Lippen. Bestimmt hat er keine Zähne mehr.
- Seine Hände?
    - In den Taschen. Die Taschen sind riesig und mit irgendwas gefüllt. Mit Kartoffeln oder Nüssen, es sieht aus wie kleine Beulen. Er hebt den Kopf, er schaut uns an. Aber ich kann die Farbe seiner Augen nicht erkennen. 
    - Siehst du sonst nichts?
    - Falten, tief wie Narben, auf seinem Gesicht. 
    Der Blinde sagt:
    - Ich höre die Sirenen. Es ist das Ende des Alarms. Gehen wir nach Hause.
    Später, mit der Zeit, brauchen wir kein Tuch mehr für die Augen und kein Gras mehr für die Ohren. Derjenige, der den Blinden spielt, wendet einfach seinen Blick nach innen, der Taube verschließt seine Ohren vor jedem Geräusch.

Der Deserteur
    Wir finden einen Mann im Wald. Einen lebenden Mann, einen jungen Mann, ohne Uniform. Er liegt hinter einem Busch. Er schaut uns an, ohne sich zu rühren.
    Wir fragen ihn:
- Warum bleiben Sie da liegen?
Er antwortet:
    - Ich kann nicht mehr laufen. Ich komme von der andern Seite der Grenze. Ich bin seit zwei Wochen auf den Beinen. Tag und Nacht. Besonders in der Nacht. Ich bin jetzt zu schwach. Ich habe Hunger. Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen. Wir fragen:
    - Warum haben Sie keine Uniform? Alle jungen Männer haben eine Uniform. Sie sind alle Soldaten. 
    Er sagt: 
    - Ich will nicht mehr Soldat sein.
    - Sie wollen nicht mehr gegen den Feind kämpfen? 
    - Ich will gegen niemand kämpfen. Ich habe keine Feinde. Ich will nach Hause zurück. 
    - Wo ist Ihr Zuhause?
    - Noch weit weg. Ich werde nicht hinkommen, wenn ich nichts zu essen finde.
Wir fragen:
    - Warum kaufen Sie sich nicht was zu essen? Haben sie kein Geld?
    - Nein, ich habe kein Geld, und ich kann mich nicht zeigen. Ich muß mich verstecken. Man darf mich nicht sehen.
- Warum?
    - Ich habe mein Regiment unerlaubt verlassen. Ich bin geflohen. Ich bin ein Deserteur. Wenn man mich fände, würde man mich erschießen oder aufhängen.
    Wir fragen:
- Wie einen Mörder?
- Ja, genau wie einen Mörder.
- Dabei wollen Sie doch niemand töten. Sie wollen bloß nach Hause zurück.
- Ja, bloß nach Hause zurück.
Wir fragen:
    - Was sollen wir Ihnen zu essen bringen? 
    -
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