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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
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Friedhof geräumt wurde, hatte man wohl die Gebeine gerade in diesem Winkel aufgestapelt, denn noch heute stößt man mit dem Fuß, im feuchten Grase wühlend, nicht selten auf Schädelreste.
    Doch niemand denkt mehr an die Toten, die unter diesem Gras geschlafen haben. Tagsüber kommen nur die Kinder beim Versteckenspielen hinter diese Holzstapel. Der grüne Gang bleibt unberührt und unbeachtet. Man sieht nichts als den Holzplatz, angefüllt mit Stämmen und grau von Staub. Morgens und nachmittags, wenn die Sonne milde scheint, wimmelt das ganze Grundstück von Leben, und über all diesem lebhaften Treiben, über der Straßenjugend, die zwischen den Holzhaufen spielt, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihrem Kessel schüren, zeichnet sich gegen den Himmel die magere Silhouette des oben auf seinem Stamm stehenden Brettschneiders ab, wie sie mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab schwingt, als wolle sie das Zeitmaß sein für das glühende neue Leben, das an dieser einst der ewigen Ruhe bestimmten Stätte aufgeblüht ist. Nur die Alten, die auf den Stämmen sitzen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal von den Gebeinen, die sie einstmals auf dem sagenhaften Karren durch die Gassen von Plassans abfahren sahen.
    Bei sinkender Nacht leert sich der SaintMittre Hof, scheint hohl zu werden, ein großes, schwarzes Loch. Nur ganz hinten sieht man noch den verglimmenden Schein des Zigeunerfeuers. Dann und wann verschwinden Schatten lautlos im Dickicht der Dunkelheit. Im Winter vor allem wird der Ort unheimlich.
    Eines Sonntagabends gegen sieben Uhr schlich ein junger Bursche aus der SaintMittreSackgasse und schlüpfte, dicht an der Mauer entlanggehend, zwischen die Stämme des Holzplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen 1851. Trockene Kälte herrschte. Der gerade volle Mond strahlte die scharfe Helligkeit aus, die ihm im Winter eigen ist. Der Holzplatz wirkte in dieser Nacht nicht hohl und unheimlich wie in den Regennächten, sondern breitete sich, von großen, weißen Lichtfeldern erhellt, mit einer sanften Schwermut in der Stille und Regungslosigkeit des Frostes aus.
    Der junge Bursche blieb einige Augenblicke am Rand des Grundstücks stehen und schaute argwöhnisch nach vorn. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte verborgen, deren nach unten gerichteter Lauf im Mondlicht glänzte. Die Waffe an die Brust drückend, prüfte er mit aufmerksamen Blicken die Schattenvierecke, welche die Bretterstapel hinten im Hof warfen. Der Boden sah aus wie ein Schachbrett: von Schatten und Licht deutlich abgesetzte schwarze und weiße Felder. Mitten auf dem Hof hoben sich auf einem Stück grauen, nackten Erdreichs die Sägeböcke der Brettschneider ab, verzerrt, schmal, bizarr, wie eine ungeheure mit Tinte auf Papier gezeichnete geometrische Figur. Der übrige Zimmerplatz mit seinem Parkett aus Stämmen war nur noch ein breites Bett für die schlummernde Helligkeit, nur ganz leicht von den feinen, schwarzen Schattenlinien gestreift, die an den dicken Bohlen entlangliefen. Unter dem Wintermond erinnerte dieses Meer von Masten, die in dem eisigen Schweigen regungslos, wie erstarrt in Schlaf und Kälte, dalagen, an die Toten des alten Friedhofs. Der junge Bursche warf nur einen flüchtigen Blick auf diese leere Fläche: keine Menschenseele, kein Lüftchen, nicht die geringste Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Stellen hinten im Hof beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Prüfung wagte er sich ins Freie und überquerte schnell den Holzplatz.
    Sobald er sich in Deckung fühlte, verlangsamte er seine Schritte. Er war jetzt in dem grünen Gang, der an der Mauer hinter den Bretterstößen entlangläuft. Hier vernahm er nicht einmal mehr das Geräusch der eigenen Schritte. Das gefrorene Gras unter seinen Füßen knisterte kaum. Ein Gefühl des Wohlbehagens schien sich seiner zu bemächtigen. Er mußte diesen Ort wohl gern haben, keinerlei Gefahr hier fürchten und nur Angenehmes und Gutes suchen. Jetzt verbarg er seine Flinte nicht mehr. Der Gang erstreckte sich gleich einem Schattengraben; hin und wieder glitt der Mondschein zwischen zwei Bretterhaufen hindurch und schnitt einen Lichtstreifen ins Gras. Alles, Schatten und Lichter, schlief einen tiefen, sanften und traurigen Schlaf. Ein Friede ohnegleichen lag auf diesem Pfade. Der junge Bursche folgte dem Weg in seiner ganzen Länge. Erst an seinem Ende, dort, wo die Mauern des JasMeiffren einen Winkel bilden, hielt er inne
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