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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns
Autoren: Dieter Kühn
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Ich erinnere an die hinreichend gefeierte Sensation von New Jersey, als ein Mann im Zustand der Levitation aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock hinausschwebte und, nach einer ruhigen Luftkurve, durch ein anderes, ebenfalls geöffnetes Fenster desselben Stockwerks wieder hineinschwebte und wohlbehalten auf dem Teppich landete. (Nebenbei bemerkt: Dieser Vorgang dürfte bei der dünneren Luft des Hochplateaus von Tibet noch leichter gelingen.)
    Ich kehrte als gleichsam neuer Mensch zurück zu »meinem« Baum im Regenwald – jenem Baum, den der Singhalese fluchtartig verlassen, jenem Baum, an dem mich der Vipernbiss ereilt hatte. Ich bereitete mich systematisch auf die Levitation vor mit dem Kauen des mitgeführten, hochspezifischen Gemischs von Pflanzensubstanzen, mit einem Schluck Pflanzensud der besonderen Art – und schon hob ich ab. Was allerdings gefördert wurde durch den Gewichtsverlust nach dem Vipernbiss. Mit geschlossenen Augen schwebte ich hinauf zum ersten der mächtigen Queräste der weit ausladenden Baumkrone. Und nun zahlte es sich aus, dass ich als Schiffsjunge gelernt hatte, ebenso rasch wie gelenkig hoch droben am Hauptmast herumzuklettern, auf einer der Rahen ein Segel setzend oder bergend.
    Ich wurde wundersam belohnt! In der Tat wuchsen dort oben Orchideen in größter Vielfalt der Formen und Farben! Zartes, doppelt gefiedertes Blattwerk … traubiger Blütenstand mit langgestielten Einzelblüten … tiefgelappte Blätter … leuchtend rote, mehrfach verzweigte Blütenstände … Fleckenzeichnung entlang der Hauptadern … karminrote Trichterblüten … blaue Schmetterlingsblüten mit hellem Zentrum … grünlichgelbe, braunviolett punktierte und gestreifte Kronzipfel … breite, lilarosa gefärbte, stark vanilleartig duftende Blüten … Statt vieler Namen, die ich aus dem Ärmel schütteln könnte, eine einzige Bezeichnung, Ihnen gleichsam als Hommage vorgelegt: Phalaenopsis Schilleriana.
    Das wahre Wunder aber war der Schmetterlingsblütler, in dem der Singhalese ein Zeichen, ein Signal für anfliegende Götter gesehen hatte. Kein Wunder, denn: Die weithin überragende Baumkrone wurde wiederum überragt – dies um etwa anderthalb Meter – von einem schlanken Stängel, gekrönt von einer Blüte in Form und Farbe eines tropenbunten Schmetterlings.
    Ich hätte diese Wunderpflanze bergen und für den Transport nach Europa konservieren müssen, wie aber hätte sich das technisch realisieren lassen? Ich hätte einen Behälter gebraucht, noch länger als das Futteral für mein Bassetthorn, ja, noch besser wäre ein etwa zwei Meter langes, oben für die Blüte ausgebauchtes Glasgefäß gewesen, aber wie hätte ich das von der Baumkrone herab und durch den Regenwald zum Küstenbereich schaffen können, um es schließlich auf dem Schiff vor den Einwirkungen der mit Sicherheit bevorstehenden Stürme zu schützen? Ich musste mich damit begnügen und die Fachwelt damit zufriedenstellen, dass ich dort oben eine präzise Zeichnung anfertigte mit exakten Angaben der Farbwerte – Hinweise, die ich erst später umsetzen konnte, mit Deckfarben.
    Meine früh schon dokumentierten Fähigkeiten und Fertigkeiten als Maler kamen hier voll zur Geltung, nur leider nicht voll zur Wirkung: Unter Botanikern wurde, in einem Akt der Verschwörung, mein Fund stillschweigend ignoriert. Dabei hätte die von mir entdeckte und dokumentierte Pflanze durchaus meinen Namen verdient: Orchidea magnifica lepidopteriosa lys. Offenbar war man eifersüchtig auf meinen Fund – als stünde sowas nur Botanikern zu. In der Tat wäre diese Entdeckung und ihre wissenschaftlich relevante Publikation die Krönung eines Botanikerlebens gewesen – und nun machte dies ein Maler, Musiker, Schriftsteller geltend! Dagegen half nur ein Massenaufgebot an Vorurteilen! Kurzum, die Schmetterlingsblüte blieb auf dem Papier, das ich, auf Verlangen, gern nachreiche, damit Sie einen unmittelbaren Eindruck gewinnen können von der Bildkraft dieser wundersamen Erfindung der Natur.
    Und die Belegstücke in den Herbarien, in den Bastkörben? Ich habe wahrlich nicht mit leeren Händen die Heimreise angetreten, doch die Umstände waren widrig. Will sagen: der Stauraum war äußerst knapp, auch in diesem Riesenschiff von 24 Metern Länge.
    Sie müssen sich einen Ostindienfahrer etwa so vorstellen: auf dem Deck reihen sich steuerbord wie backbord Kanonen – Handelssegler sind besonders bedroht durch Piraten. Auch das Deck darunter: beherrscht von
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