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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns
Autoren: Dieter Kühn
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an einer Krankheit, die man mir nicht ansieht – ich humple nicht, trage keinen Verband, unter dem es suppt, ich bewege mich frei … Das Unheil spielt sich ab im malträtierten Kopf, auf kleinstem Raum mit größter Wirkung: Geräusche erstickt, Wörter erstickt, Klänge erstickt, leider auch Musikklänge. Ja, als würden mir von fremden Händen Finger in die Ohren gesteckt! Zugleich stellen sich, höhnisch trügerisch, Phantomgeräusche ein, wie von einer Bootsmannspfeife. Die habe ich als Schiffsjunge gehört, wenn ein Besucher das Fallreep heraufstieg, ein Südseegouverneur, dadididaa, ein Eskimohäuptling, dadididaa. Aber nun kommt, im Kopf,
unablässig
jemand an Bord,
unaufhörlich
bläst der Bootsmann die Bronzepfeife. Der Pfeifklang dringt durch Mark und Bein, dringt durch Stirnbein, Schläfenbein, Jochbein, Brustbein, Schambein – dringt durch, schlägt durch! Ein wahrhaft infernalischer Bootsmann, der sich bei mir eingenistet hat: über Wochen, Monate, Jahre hinweg muss der kein einziges Mal Luft holen, ich werde ausgepfiffen, dass es in den Ohren gellt, aber von innen, von tief innen her. Dauerton, geblasen und gehalten, pausenlos gehalten, gnadenlos gehalten, gnadenlos pausenlos, ich glaube zuweilen, der Kopf zerspringt – wahrscheinlich haben sich bereits dünne Risse in der Schädelschale gebildet, der Pfeifton will irgendwo raus, doch er kommt und kommt nicht raus. Andererseits wirft sich jemand über jeden Klang, der sich am Dauerton vorbei in den Kopf stehlen will, wirft sich mit doppelter, dreifacher, vierfacher Decke über jeden Ton, jedes Tönchen, erdrückt, erstickt, erstickt, erdrückt, schließlich ist da nur noch eine Klangsteppe, Klangwüste, über die der Dauerton hinwegschwebt. Doch ich ließ mich nicht unterkriegen, schrieb weiter, komponierte weiter, zeichnete weiter.

    [Anmerkung des Herausgebers: Offensichtlich setzt Lyser voraus, dass die Adressaten wissen, wer sich hier hilfesuchend an sie wendet. Um dem Verdacht entgegenzuwirken, er sei eine fiktive Figur, kurz einige Angaben zur Biographie des Antragstellers.
    Geboren wurde er im Jahre 1803 in Flensburg, als Sohn des Schleswiger Hofschauspielers Friedrich Burmeister und der Louise Catharina Marie, geb. Jansen. Zwei Jahre nach seiner Geburt ließen sich die Eltern scheiden, seine Mutter heiratete erneut einen Mann aus der Theaterbranche, den Schauspieler und Intendanten Friedrich von Mertens. Nach einem Duell, das für den Gegner tödlich ausging, musste Mertens seine Stelle aufgeben, eine neue Existenz aufbauen; dies geschah unter dem Namen seines Stiefvaters Lyser. Unser Lyser nun kombinierte lange Zeit die Namen beider Väter: Burmeister-Lyser, beließ es zuletzt aber bei: Johann Peter Lyser. Wobei er in frühen Jahren zuweilen der wohlklingenden Namensform den Vorzug gab: Jean Pierre Lysèr.]

    Es liegt mir ganz und gar nicht, schön brav der chronologischen Ordnung folgend mein Leben zu vergegenwärtigen, dazu besteht wahrhaftig kein Anlass, also belasse ich es an dieser Stelle bei einem dankbaren Hinweis auf meinen Doppelvater Friedrich.
    Vater Friedrich hat nachhaltige Spuren hinterlassen in meinem Gedächtnis; er las dem Kind Berichte vor über Expeditionen in ferne, meist tropische Länder. Ich lernte auf diese Weise Wörter kennen, die anderen Kindern meines Alters vielleicht erst sehr viel später begegnen, falls überhaupt. Ich nenne das Wort »Lippenschmuck«. Ein gleichsam wegweisendes Wort für mich als Mann der Sprache! Es folgten weitere wohlklingende Wörter, schön wie das Federkleid tropischer Vögel: Purpurbindertäubchen … Rotschnabel-Hokko … Graurücken-Trompetervogel … Ja, und es wurde mir von Schlangen vorgelesen, die mit gespaltenen Zungen am liebsten nach Lebewesen schnappen, die durch Schönheit auffallen: Schmetterlinge, Kolibris, Singvögel … Diese Schlangen lassen, getarnt und reglos, ihre Opfer nah herankommen, schnellen dann zum tödlichen Biss auf sie los … Schlangen dieser Art als Gefahr auch für Menschen: sie umschlingen Körper, töten durch Strangulation. Die kann so stark sein, dass sich das Knacken von Rippen weithin vernehmen lässt, auch bei Personen mit einer gewissen Fettschicht auf dem Leibe.
    Vorgelesen wurde mir zudem von chamäleonartigen Amphibien, die, gleichfalls gut getarnt, auf der Lauer liegen, meist auf Ästen in Kopfhöhe von Menschen, und mit einem kurzen, giftigen Anhauch machen sie jede Orientierung zunichte. Als Folge auch ungewöhnliche optische Eindrücke:
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