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Das Geheimnis meiner Mutter

Das Geheimnis meiner Mutter

Titel: Das Geheimnis meiner Mutter
Autoren: Susan Wiggs
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kümmern mussten. Sie hatte irgendein Formular unterzeichnet, als die Finger ihrer linken Hand mit einem Mal taub wurden und sie den Stift fallen ließ, um sich an die Kehle zu fassen.
    „Ich kann nicht atmen“, hatte sie der Angestellten im Krankenhaus gesagt. „Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt.“
    Der sie behandelnde Arzt, ein müde aussehender Einwohner von Tonawanda, war während der Untersuchung ruhig und mitfühlend gewesen und erklärte ihr im Anschluss ihren Zustand. Diese heftige Attacke war eine gar nicht mal so unübliche körperliche Reaktion auf ein emotionales Trauma. Die Symptome waren allerdings genauso real und Furcht einflößend wie bei einer echten Krankheit.
    Seitdem waren Jenny diese Symptome nur zu vertraut geworden. Die praktische, nüchterne Jenny Majesky sollte sich nicht von etwas so Unkontrollierbarem und Irrationalem wie Panikattacken einschüchtern lassen. Und doch konnte sie nichts tun, als ein unangenehmes Gefühl in ihr aufstieg, wie eine Parade von Spinnen, die ihre Kehle hinaufkletterten. Ihr Herz schien sich in ihrer Brust auszuweiten.
    Sie schaute sich hektisch um auf der Suche nach den Tabletten, die der Arzt ihr gegeben hatte. Sie hasste die Pillen beinahe so sehr wie die Panikanfälle. Warum konnte sie sie nicht einfach abschütteln? Warum konnte sie nicht ein paar tiefe Atemzüge nehmen und sich mit einer Tasse starkem Kaffee und dem Geschmack der mit Aprikosenmarmelade gefüllten Kolaches ihrer Großmutter beruhigen?
    Zumindest wäre es eine Ablenkung. Der einzige Ort, wo sie um diese Uhrzeit mitten in der Nacht jemand anders finden konnte, der nicht schlief, war die Sky River Bakery, die 1952 von ihren Großeltern gegründet worden war. Helens Spezialität waren mit Marmeladen oder Frischkäse gefüllte Kolaches und Kuchen, die inzwischen weit über die Grenzen des Ortes hinaus bekannt waren. Sämtliche am Marktplatz liegenden Restaurants und Feinkostgeschäfte bestellten ihre Backwaren bei Helen und verkauften sie an die gut situierten Touristen, die im Sommer und Herbst nach Avalon kamen, um entweder der Hitze der Großstadt zu entfliehen oder das bunte Farbenspiel der Laubbäume zu bewundern.
    Jetzt war Jenny die einzige Besitzerin der Bäckerei. Sie zog sich schnell an: lange Fleeceunterwäsche, karierte Bäckerhose und einen dicken Wollpullover, dazu warme Stiefel, eine Winterjacke und eine Mütze. Auf gar keinen Fall würde sie mit dem Auto fahren, bevor der Schneeräumdienst seine erste Runde gefahren war. Außerdem müsste sie erst die Auffahrt freischaufeln, bevor sie das Auto aus der Garage fahren könnte, und darauf hatte sie nun überhaupt keine Lust. Die Bäckerei lag nur sechs Häuserblocks entfernt, direkt am Hauptplatz in der Stadtmitte. In wenigen Minuten wäre sie zu Fuß da. Vielleicht würde die Anstrengung auch helfen, die Panik ein wenig in Schach zu halten.
    Jetzt fiel ihr auch wieder ein, wo sie die Tabletten hingelegt hatte. Sie holte sie und steckte sie in die Jackentasche. Nur für den Notfall.
    Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und machte sich auf den Weg durch die gefrorene Stille. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Wolken zogen davon und machten den Sternen Platz. Neuschnee quietschte unter ihren Schuhen, als sie der Strecke folgte, die sie kannte, seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie war in der Bäckerei aufgewachsen, umgeben von dem schweren Duft nach Brot und Gewürzen, den geschäftigen Geräuschen der Misch- und Rührmaschinen, klingelnden Küchenuhren und den rollenden Regalen, die nach draußen zum wartenden Lieferwagen geschoben wurden.
    Eine einzige Lampe leuchtete über dem Hintereingang. Sie schloss die Tür auf und stapfte sich den Schnee von den Schuhen. Vor der blitzsauberen Schleuse, die in die Backstube führte, zog sie die Stiefel aus und schlüpfte in ihre Bäckereiclogs, die auf einem Regal vor der Tür standen.
    „Ich bin’s“, rief sie und ließ den Blick durch die Backstube schweifen. Sie war so sauber wie immer. An einer Wand waren Zentnersäcke frisch gemahlenen Mehls säuberlich aufeinandergestapelt. Daneben standen Fünfhundertliterfässer Honig. Eine andere Wand wurde vom Boden bis zur Decke von einem Regal eingenommen, in dem spezielle Zutaten in durchsichtigen Plastikbehältern aufbewahrt wurden – Hirse, Pinienkerne, Oliven, Rosinen, Pekannüsse. Die Kühlschränke, Öfen und Arbeitsflächen aus Edelstahl schimmerten unter den Deckenlampen, und der reiche Duft von Zimt und Hefe
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