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Das Geheimnis meiner Mutter

Das Geheimnis meiner Mutter

Titel: Das Geheimnis meiner Mutter
Autoren: Susan Wiggs
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kennengelernt hatte. Jenny nannte das Glück im Unglück. Von dem, was sie bisher über ihre biologischen Eltern erfahren hatte, wäre keiner von ihnen so gut gerüstet gewesen, ein Kind großzuziehen, wie es Helen und Leo Majesky gewesen waren.
    Ein Geräusch – ein dumpfer Knall und dann ein Kratzen – riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken. Sie neigte den Kopf, lauschte und entschied dann, dass es sich wohl um ein Schneebrett oder ein paar Eiszapfen gehandelt haben musste, die vom Dach gefallen waren. Man wusste nicht, wie leise ein Haus sein konnte, bis man ganz alleine darin war.
    Seit ihre Großmutter gestorben war, wachte Jenny jede Nacht auf, den Kopf voller Erinnerungen, die darum bettelten, niedergeschrieben zu werden. Sie alle schienen aus der Küche zu strömen wie der Geruch von Grannys Backwaren. Jenny hatte ihr ganzes Leben lang Tagebuch geführt, und in den letzten Jahren hatte sich diese Angewohnheit von ihr zu einer regelmäßigen Kolumne für den Avalon Troubadour entwickelt. Es war eine Mischung aus Rezepten, Küchenkunde und Anekdoten. Seit Grannys Dahinscheiden konnte Jenny sich nicht mehr schnell bei ihr rückversichern oder sie wegen der Herkunft einer bestimmten Zutat oder einer Backtechnik befragen. Sie war nun auf sich allein gestellt, und sie hatte Angst, dass sie Dinge vergessen würde, wenn sie zu lang wartete.
    Dieser Gedanke löste einen Aktionsdrang aus. Schon lange hatte sie vorgehabt, die alten Rezepte ihrer Großmutter abzuschreiben. Einige von ihnen waren noch auf Polnisch auf brüchigem gelben Papier geschrieben. Sie bewahrte die Rezepte in der Vorratskammer in einer verschlossenen Dose auf, die seit Jahren nicht geöffnet worden war. Ohne Rücksicht darauf, dass es halb vier Uhr in der Früh war, ging Jenny nach unten. Beim Betreten der Vorratskammer trat ihr ein schmerzhaft vertrauter Geruch in die Nase – der Geruch von Mehl und Körnern und den Gewürzen ihrer Großmutter. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich nach der metallenen Dose. Als sie sie vorsichtig vom Regal holte, verlor sie das Gleichgewicht und ließ die Dose fallen. Ihr Inhalt ergoss sich über ihre flauschigen Hausschuhe.
    Sie stieß einen Fluch aus, der niemals über ihre Lippen gekommen wäre, solange Granny noch am Leben gewesen war, und zog sich dann vorsichtig auf Zehenspitzen zurück, um nicht auf eines der empfindlichen Dokumente zu treten. Jetzt würde sie eine Taschenlampe benötigen, weil es in der dunklen Speisekammer kein Licht gab. Sie fand die Lampe in einer Schublade, doch die Batterien waren leer und sie hatte auch keine neuen mehr im Haus. Sie überlegte, eine Kerze anzuzünden, entschied sich aber dagegen, weil sie keinen Unfall mit den alten Aufzeichnungen riskieren wollte. Mit einem Seufzer lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte in der Küche und verdrehte die Augen himmelwärts. „Tut mir leid, Granny“, sagte sie.
    Ihr Blick landete auf dem Rauchmelder. Aha, dachte sie. Schnell zog sie einen Küchenstuhl darunter, stellte sich darauf, holte die beiden Batterien aus dem Gerät und steckte sie in die Taschenlampe.
    Sie kehrte zur Speisekammer zurück und hob vorsichtig die Blätter auf, die wie trockenes Herbstlaub raschelten. Sie legte sie in die Dose zurück und trug sie in die Küche. Es waren alte Aufzeichnungen und Rezepte in der polnischen Muttersprache ihrer Großmutter. Auf der Rückseite eines vergilbten Blattes mit verknickten Ecken entdeckte sie eine Unterschrift in verblassender Tinte – Helenka Maciejewski stand dort wohl ein Dutzend Mal in der mädchenhaften Handschrift. Das war der Name ihrer Großmutter, bevor er anglisiert worden war. Sie musste das als junge Braut geschrieben haben.
    Es gab Dinge, die ihre Großeltern betrafen, die Jenny nie erfahren würde. Wie war es für sie gewesen, als Frischverheiratete, die kaum ihre Kindheit hinter sich hatten, ihre Heimat zu verlassen, um eine halbe Welt entfernt ein neues Leben zu beginnen? Hatten sie Angst gehabt? Waren sie aufgeregt? Hatten sie miteinander gestritten oder sich aneinander festgehalten?
    Sie schloss ihre Augen, als eine schon vertraute Welle der Panik in ihrem Magen losbrach, durch ihren Körper schoss und ihre Brust zusammendrückte. Diese Panikattacken waren ganz neu für Jenny. Eine schreckliche und unerwartete Entwicklung. Die Erste hatte sie im Krankenhaus überfallen, als sie wie erstarrt den ganzen Papierkram erledigt hatte, um den die nächsten Verwandten sich
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