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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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— selbst bei einem so erfahrenen Mann wie Agliè, der sofort die Trommel gerührt hatte, um sie alle zusammenzurufen —, es ihm zu entreißen. Und je mehr Belbo sich weigerte, es zu enthüllen, desto mehr glaubten sie, es müsse ein großes Geheimnis sein, und je mehr er schwor, es nicht zu besitzen, desto mehr waren sie überzeugt, dass er es besitze und dass es ein echtes Geheimnis sei, denn wenn es ein falsches gewesen wäre, hätte er es enthüllt.
    Jahrhundertelang war die Suche nach diesem Geheimnis das Band gewesen, das sie alle zusammengehalten hatte, trotz aller gegenseitigem Exkommunikationen, internen Machtkämpfe und Putsche. Nun waren sie kurz davor, es zu erfahren. Und da überfielen sie zwei Ängste: dass die Enthüllung des Geheimnisses sie enttäuschen könnte und dass es — wenn es einmal enthüllt war — kein Geheimnis mehr sein würde. Das wäre ihr Ende gewesen.
    An diesem Punkt hatte Agliè begriffen: wenn Belbo reden würde, würden es alle hören, und er, Agliè, würde die Aura verlieren, die ihm sein Charisma und seine Macht verlieh. Wenn aber Belbo sich nur ihm allein anvertrauen würde, dann würde Agliè weiterhin Saint-Germain bleiben können, der Unsterbliche — der Aufschub seines Todes fiel zusammen mit dem Aufschub der Enthüllung des Geheimnisses. Also versuchte er Belbo zu überreden, ihm das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, und als er begriff, dass es sinnlos war, provozierte er ihn, indem er seine Kapitulation voraussagte, aber mehr noch, indem er ihm eine melodramatische Szene vorspielte. Oh, er kannte ihn gut, der alte Graf, er wusste, dass bei Leuten vom Schlage Belbos die Dickköpfigkeit und der Sinn für das Lächerliche sogar die Angst besiegen. Er zwang Belbo, einen schärferen Ton anzuschlagen und endgültig nein zu sagen.
    Und aus derselben Angst zogen es die anderen vor, Belbo zu töten. Zwar verloren sie damit die Aussicht auf die gesuchte Karte — sie hatten ja noch Jahrhunderte Zeit, nach ihr zu suchen —, aber sie retteten sich die Jugendfrische ihrer alternden und sabbernden Begierde.
    Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Amparo erzählt hatte. Bevor sie nach Italien gekommen war, hatte sie ein paar Monate in New York verbracht und dort in einer Gegend gewohnt, wo man höchstens hingeht, um Fernsehfilme über die Arbeit der Mordkommission zu drehen. Sie war oft spät in der Nacht allein nach Hause gekommen. Als ich sie fragte, ob sie denn keine Angst vor Vergewaltigungen gehabt habe, erklärte sie mir ihre Methode: Sobald ein Vergewaltiger näher kam und sich als solcher zu erkennen gab, nahm sie ihn am Arm und sagte: »Na komm, gehen wir ins Bett.« Woraufhin er panikartig davonlief.
    Ein Vergewaltiger will keinen Sex, er will die Erregung des Gewaltaktes, mit dem er sich den Sex holen muß, er will den Widerstand des Opfers brechen. Wird ihm der Sex freiwillig geboten und ihm gesagt, hic Rhodus, hic salta, dann ist es ganz natürlich, dass er wegrennt, was wäre er sonst für ein Vergewaltiger?
    Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wussten auch, dass es falsch war.
    Die Maschine flog über den Mont Blanc, und alle Passagiere stürzten sich auf dieselbe Seite, um nicht die Offenbarung jener platten Beule zu versäumen, die da dank einer Dystonie der tellurischen Ströme gewachsen war. Ich dachte, wenn das, was ich gerade dachte, richtig war, dann gab es vielleicht die tellurischen Ströme gar nicht, genauso wenig wie die Botschaft aus Provins. Aber die Geschichte der Entzifferung des Großen Plans, so wie wir sie rekonstruiert hatten, war dann nichts anderes als die Realgeschichte.
    Meine Gedanken gingen zurück zu Belbos letztem file... Aber wenn das Sein so leer und zerbrechlich ist, dass es sich nur an der Illusion derjenigen aufrecht hält, die nach seinem Geheimnis suchen, dann gibt es wirklich — wie Amparo damals nach ihrer Niederlage sagte —, dann gibt es wirklich keine Erlösung, dann sind wir alle Sklaven, gebt uns einen Herrn, wir haben's nicht besser verdient...
    Nein, das kann nicht alles sein. Das kann nicht alles sein, denn Lia hat mich gelehrt, dass es noch etwas anderes gibt, und ich habe den Beweis, er heißt Giulio, in diesem Moment spielt er wahrscheinlich gerade auf einer Bergwiese und zieht eine Ziege am Schwanz. Es kann nicht alles sein, denn Belbo hat zweimal nein gesagt.
    Das erste Nein hatte
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