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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge
Autoren: Carsten Polzin
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roch angebrannt. Lena wandte sich hastig wieder dem Herd zu, drehte das Gas ab, kratzte die gebräunte Schicht vom Boden der Pfanne. Dann gab sie alles auf einen Teller und legte eine Scheibe Brot dazu.
    »Du hast gesagt, dass du das ganze Jahr über als Hund bei deinen Eltern wohnst, bis auf Heiligabend, wo du für ein paar Stunden wieder Mensch wirst«, sagte sie, als sie ihm den Teller hinstellte. »Das ist nicht gerade normal.«
    Er nahm die Gabel, die sie ihm reichte, und begann gierig zu essen. »Stimmt. Das kann nicht jeder.«
    Lena blinzelte verwirrt. »Was?«
    »Sich in einen Hund verwandeln.«
    Er aß weiter, hieb mit der Gabel auf die weißgelbe Masse vor sich ein, schaufelte sie in sich hinein, ohne zu bemerken, wie Lena sich setzen musste, weil ihre Knie nachzugeben drohten, als sie begriff.
    »Das kannst du?«, flüsterte sie schließlich in die stumme Kälte zwischen den Esslauten.
    »Außer an Heiligabend«, nickte Julius mit vollem Mund. »Mensch, Hund – wie ich will. Hin und her. Es ist bloß ziemlich anstrengend, deswegen bleibe ich ein Hund.«
    »Freiwillig.«
    »Ist doch viel besser.« Er kaute. Derb, schmatzend. »Als Hund muss man nichts tun, nichts werden, nichts vortäuschen – man lebt einfach. Man kann so sein, wie man ist, ohne dass einer an einem rummeckert. Wenn ich früher mal was gesagt hab, dass ich irgendjemanden nicht leiden kann zum Beispiel – gleich hieß es, das darf ich nicht sagen, das sei ungezogen, ich sei ein schlechter Mensch und so weiter. Wenn man ein Mensch ist und nicht so denkt und redet, wie es die andern von einem erwarten, dann ist man immer der Arsch. Dann heißt es gleich, etwas stimmt nicht mit einem. Sobald man sagt, was man wirklich denkt, dann kann einen keiner mehr leiden. Als Hund« – Julius riss ein Stück Brot entzwei, um den leer gegessenen Teller bis zu den Rändern auszuwischen – »knurrst du einfach jeden an, den du nicht leiden kannst, und dann hat der ein Problem, nicht du. Du bist ja ein Hund; kein Mensch erwartet von einem Hund, dass er höflich ist, sich verstellt oder einem nach dem Mund redet. Als Hund darf man genau so sein, wie man eben ist, und wenn einer damit nicht zurechtkommt, kann's einem scheißegal sein. Man kriegt sein Fressen trotzdem.«
    Lena starrte ihn an. »Du bleibst freiwillig ein Tier …?«
    »Das ist echt viel besser«, versicherte ihr der Junge. »Meine Mutter liebt mich erst, seit ich ein Hund bin.«
    Liebe. Natürlich. Das war der Schlüssel.
    Was auch sonst? Lena nickte unwillkürlich. Letzten Endes verhielt es sich doch wie in den Märchen. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Fluch in der Lieblosigkeit von Julians Mutter lag, was vielleicht noch schlimmer war als der Bannspruch eines bösen Magiers …
    War es das? Rief das Schicksal sie wieder einmal, so, wie es sie damals zurück nach Hause gerufen hatte, sich um ihren Vater zu kümmern? Rief es sie diesmal, diesem Jungen beizustehen? Ihm ins Gewissen zu reden? Ihm klarzumachen, dass es eine Sünde war, freiwillig als Tier zu leben, wenn man als Mensch geboren war?
    »Julius.« Sie sah ihm ernst in die Augen, die groß und dunkel waren, fast wie Hundeaugen. »Du bist ein Mensch. Du kannst doch nicht freiwillig das Dasein einer niedrigeren Lebensform wählen!«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Ist gar kein Problem, ehrlich. Umgekehrt geht es wahrscheinlich nicht, denk ich, aber ich – ich hab die freie Auswahl.«
    Die Leichtfertigkeit, mit der er das sagte, machte Lena sprachlos. »Aber … aber fehlt dir denn da nicht was? Ich meine …« Sie hob die Hände, betrachtete sie, spreizte die Finger. »Das zum Beispiel. Als Hund hast du nur Pfoten. Du kannst nichts greifen, kannst vielleicht gerade mal eine Türklinke drücken … In deinem Alter will man doch am Computer spielen, oder? Man will ein Handy haben, man will … was weiß ich, mit Freunden ins Kino gehen … Das entgeht dir alles. Das ganze Leben.«
    Sein Blick hatte sich verdüstert. »Ich hätte ohnehin kein Handy gekriegt.«
    Auf ihn einzureden würde nicht genügen, erkannte Lena. Das Schicksal verlangte mehr von ihr, als ihm Ratschläge zu geben. Genau wie es damals nicht damit getan gewesen wäre, Vater ein Kochbuch zu schenken oder ihm zu erklären, wie man Nudeln kochte.
    Was, wenn sie Julius anbot, künftig bei ihr zu leben? Freilich, in der Nachbarschaft seiner Eltern würde das nicht gehen, aber wenn sie das Haus verkaufte und sie gemeinsam fortgingen, irgendwohin, wo man sie nicht
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