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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge
Autoren: Carsten Polzin
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ihm irrsinniges Vergnügen bereitet.
    Das Problem war nur, dass die Zeit fehlte. Je aufwendiger die Erledigung der Wünsche wurde – und auch ein Weihnachtsmann konnte tektonische Platten nicht mit dem kleinen Finger verschieben –, desto schwieriger wurde es, alle reizvollen Wünsche zu erfüllen.
    Also war er seit geraumer Zeit, eben seit gut fünfhundert Jahren, dazu übergegangen, sich auf eine erlesene Auswahl zu beschränken. Und der letzte Wunsch der Saison, den er in die Hände bekam, wurde stets erfüllt. Da gab es keine Ausflüchte, kein Maulen und Meckern. Und wenn er einer mehrfachen Mutter, wie im letzten Jahr geschehen, eigenhändig den Hals umdrehen musste, tat er es. Und wenn seine gichtigen Finger schmerzten. Er erfüllte diesen letzten Wunsch.
    Doch diesmal war es etwas anderes.
    Der Weihnachtsmann bezweifelte, dass seine Assistenten den Wunschzettel überhaupt gelesen hatten. Das konnte ja nicht sein. Sie hätten ihn aussortieren müssen, von vornherein, und ihn erst recht nicht als letzten Wunsch auf den Tisch legen dürfen.
    Andererseits jedoch … Sie alle wussten um die Passion des Weihnachtsmanns, um seinen Sinn für das Makabre. Und war das nicht der makaberste Wunsch, der jemals an ihn herangetragen worden war? War das nicht die Krönung seines jahrtausendalten Werks? Eigentlich musste er seinen Untergebenen danken. Sie konnten ihm diesen Wunsch nicht vorenthalten. Sie durften es nicht.
    Er seufzte. Sie waren einfach zu gut in ihrem Job. Hätte er sich doch nur weniger auf sie verlassen können.
    Nun gut, die Tradition besagte, dass er diesen Wunsch erfüllte. Brach er doch einfach mit der Tradition. Es lag an ihm, schließlich hatte er sie selbst begründet.
    Der Weihnachtsmann faltete den Brief erneut auseinander. Wer hatte ihn überhaupt geschickt? Sie hieß Kathy. Er übertrug Namen und Adresse in die Suchfelder seiner Datenbank und wartete. Der Bildschirm spuckte das Bild eines braunhaarigen Mädchens mit fröhlichen, runden Augen aus. Es mochte zehn Jahre alt sein. Sah aus wie all die anderen Kinder. Und doch schien Kathy etwas Besonderes zu sein.
    Natürlich war sie es. Sie hatte als Einzige verstanden. Und sie hegte diesen Wunsch. Der noch nie geäußert worden war und nie wieder geäußert würde.
    Er lehnte sich zurück in den Sessel und faltete knackend die Hände.
    Was, wenn er das Problem auf die einfachste Weise aus der Welt schaffte? Er konnte dieser Kathy am kommenden Morgen Gift in die Frühstücksflocken streuen. Er konnte sie überfahren lassen. Oder die alte Kampfhundnummer anwenden …
    Nein, das war nicht sein Stil.
    Er hatte sein Wort gegeben, wenn auch nur sich selbst. Das war eine Frage der Ehre, oder nicht? Das kleine Mädchen hatte einen Wunsch geäußert, der allen formalen Kriterien entsprach. Es war der letzte Wunsch für dieses Jahr, und er war böse. Verdammt böse. Abgrundtief böse.
    Der Weihnachtsmann beugte sich nach vorne, löschte den Bildschirm und fuhr den Computer herunter. Dann erhob er sich ächzend und ging hinüber zu seinem altmodischen Metallschrank. Er durchsuchte die Regale, bis er das Seil fand. Es stank nach Altöl, er hatte es irgendwann von einem untergehenden Frachter mitgehen lassen, auch wenn er bis jetzt keine Idee gehabt hatte, was damit anzufangen war.
    So schloss sich der Kreis.
    Bevor er den Sessel in die Mitte des Büros rückte, direkt unter die Lampe, nahm er erneut den Brief des Mädchens zur Hand.
     
    Lieber Weihnachtsmann,
    ich wünsche mir, dass du stirbst.
    Kathy
     
    Er verzog den Mund zu einem Grinsen. Konnten Wünsche die Welt verbessern? Vielleicht war dies seit langem der erste, der es konnte.
    »Frohe Weihnachten, Kathy«, murmelte der Weihnachtsmann, bevor er auf den Sessel stieg und sich erhängte.
     

Autoren- und Quellenverzeichnis
     
    * Marliese Arold, 1958 in Erlenbach am Main geboren, schrieb bereits als Kind ihren ersten Kriminalroman. In den Achtzigerjahren schuf sie mit »ZM – Streng geheim« eine Zeitmaschinen-Serie mit Kultstatus und hat bis heute über 170 Kinder- und Jugendromane veröffentlicht, die in elf Sprachen übersetzt wurden. Viele ihrer Bücher weisen phantastische Elemente auf und führen die Helden in magische Abenteuer. Marliese Arold lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Erlenbach. Mehr zur Autorin: www.marliese-arold.de »Die zweite Chance« © 2007 Marliese Arold
     
    * Samit Basu , geboren 1979 in Kalkutta, studierte Wirtschaft in seiner Heimatstadt und wechselte dann an
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