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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge
Autoren: Carsten Polzin
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aber sie konnte nicht damit aufhören.
    Min herze und min lip, diu wellent scheiden …
    »Nächstes Jahr«, sagte sie mühsam, »musst du dir einen anderen Unterschlupf suchen.«
    Sie hörte ihn erschrocken einatmen. »Was?«
    »Ich muss das Haus verkaufen. Es ist zu groß für mich alleine, verstehst du? Ich werde wegziehen. In eine andere Stadt. Der neue Eigentümer wird eine andere Kellertür einbauen, eine moderne, aus Stahl. Wahrscheinlich auch eine Alarmanlage.«
    Sie hörte ihn mit den Fingernägeln über die Tischplatte fahren. »Schade«, sagte er ratlos.
    Lena stand ruckartig auf, trat an den Herd, befingerte den Stiel der Kasserolle. »Willst du noch etwas trinken?«
    »Nein, danke.«
    »Etwas essen?
    »Danke, auch nicht.«
    »So ein bisschen Rührei ist nicht viel.«
    »Ich bin eigentlich satt. Ich hatte nur Appetit auf was anderes als sonst.«
    Ihr schauderte. Sie würde nicht darüber nachdenken, wovon er satt war. »Ich bin schrecklich müde. Ich werde ins Bett gehen. Du kommst ja allein zurecht. Wie die letzten Jahre auch.«
    Er räusperte sich und sagte dann leise: »Ja. Ich komm zurecht.«
    »Dann gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Lena verließ die Küche, stieg die Treppe hinauf, fühlte nichts. Es war gut, nichts zu fühlen. Sie schloss die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich ab, zweimal, schlüpfte unter die Decke, machte das Licht aus und lauschte noch eine Weile, ohne etwas zu hören.
    Dann schlief sie ein.
    Am nächsten Morgen war das Haus so verlassen wie immer. Sie fand die Kellertür ordentlich verschlossen vor, den Reserveschlüssel an seinem Platz. Wie hätte ein sich in einen Hund verwandelnder Junge das bewerkstelligen sollen? Lena beschloss, alles nur geträumt zu haben.
    Dann machte sie sich daran, das Geschirr zu spülen. Eine Tasse mit Kakaoresten, ein mit Ei und Fett verschmierter Teller, eine Pfanne, Besteck. Nicht darüber nachdenken. Es gab nur den Moment. Kein Nachdenken, keine Sorgen, keine Schuldgefühle.
     

Florian Straub
                                                         Kathy
     
    Der Weihnachtsmann riss mit zitternden Fingern den Briefumschlag auf und überflog seinen Inhalt. Der letzte Wunschzettel für dieses Jahr. Die Tradition besagte, dass … Er hielt inne und las erneut. Zwang seine Augen vom Ende des kurzen Absatzes nach oben und las ein weiteres Mal.
    Schweiß trat ihm auf die Stirn.
    Das konnte nicht sein.
    Das durfte nicht sein!
    Die Tradition besagte … Zum Teufel mit der Tradition, dachte er und wollte wütend den Brief zerreißen.
    Doch er befolgte das Ritual seit fünfhundert Jahren. Jahr für Jahr gingen Millionen und Abermillionen von Wunschzetteln bei ihm ein, und 95 %, in mageren Zeiten sogar bis zu 99 % der Wünsche, blieben unerfüllt. Ein Heer wuselnder Assistenten mit roten Nasen filterte die wenigen Wünsche aus, die originell genug erschienen, um beschieden zu werden. Und seine Untergebenen kannten die Vorlieben des Weihnachtsmanns. Alles, was mit Geschenken, Geld und Gesundheit zu tun hatte, was auch nur im Entferntesten als Geste der Zuneigung ausgelegt werden konnte, wurde von vornherein aussortiert. Für so etwas hatte der Weihnachtsmann entgegen der landläufigen Meinung seit circa dreitausend Jahren nichts mehr übrig. Interessanter waren die Gemeinheiten und Boshaftigkeiten, die immer wieder auf dem einen oder anderen Wunschzettel auftauchten.
    Etwa, wenn ein Kind sich wünschte, seine Schwester möge in der Küche ausrutschen. Wenn jemand seinen Schulkameraden gegen einen Laternenpfahl laufen sehen wollte. Wenn ein anderer sich für seine Lehrerin eine unheilbare Lungenentzündung erbat. Vor nicht allzu langer Zeit hatte jemand darum ersucht, dass sein Nachbar von einem Nahverkehrsbus überfahren würde. Vermutlich war irgendein Streit vorausgegangen, das interessierte den Weihnachtsmann wenig. Er war ein Mann der Tat, ihm ging es um die Ausführung dieser bösen Wünsche. Und davon gab es bemerkenswerterweise, je weiter die Entwicklung der Menschen voranschritt, immer mehr. Der Weihnachtsmann hatte Politikern anzügliche Fotos auf ihre Computer geladen, auf wehrlose Landstreicher eingetreten und Ehefrauen entführt. Er hatte beste Freundinnen von Hochhäusern gestoßen, Feuer in Autotunneln gelegt und Bomben unter U-Bahn-Sitzen verborgen. Er hatte Flugzeuge zum Absturz gebracht, Dörfer unter Schlammlawinen begraben und ganze Erdteile austrocknen lassen. Und all das hatte
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