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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus
Autoren: Pierre Magnan
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Familienstammbuch gelesen?«
    »Ich weiß, daß ich Waise bin«, antwortete Séraphin mit leiser Stimme, als ob er sich dessen schämte.
    Die Notaren eigene Vorsicht ließ es Maître Bellaffaire geraten scheinen, das Thema fallenzulassen und die Wahrheit zu unterschlagen. Sein Vater hätte das fertiggebracht, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch wenn sich einem eine Erinnerung anschaulich aufdrängt, ist es schwer, seine Gefühle gänzlich zu unterdrücken.
    Er fuhr in unbeteiligtem Ton fort: »Wissen Sie, damals war ich gerade mal zehn Jahre alt und in Manosque im Internat untergebracht. Ich konnte also …« Seine weißen, manschettengeschmückten Hände beschrieben eine anmutige Bewegung, die wie ein Flügelschlag aussah. »Aber warum sollten Sie sich eigentlich damit abgeben? Lassen wir die Vergangenheit ruhen!«
    Zum ersten Mal sah Séraphin ihn an, und sofort wich der Notar seinem Blick aus und schielte nach der Standuhr.
    »Sind Sie von Nonnen aufgezogen worden?« fragte Séraphin. »Nnein …« stammelte Maître Bellaffaire, »natürlich nicht!«
    »Ich schon«, sagte Séraphin mit sanfter Stimme.
    »Kurz und gut«, fiel ihm der Notar ins Wort, »es bleiben Ihnen eintausendzweihundertfünfzig Franc und fünfzig Centime aus dem Verkauf der Grundstücke und des lebenden und toten Inventars.« Er klopfte auf ein Bündel Geldscheine zu seiner Rechten und beteuerte wortreich, daß alle sich in dieser heiklen Angelegenheit durch und durch anständig verhalten hätten. Er schwenkte die Akte, in der alles in gestochener Kanzleischrift festgehalten war. Seiner Meinung nach hatte alles seine Richtigkeit. Keine Spur von irgendeiner krummen Tour. (Er legte besonderen Nachdruck auf diese Formulierung.) »Also wie gesagt: eintausendzweihundertfünfzig Franc und fünfzig Centime, dazu das Haus. Hier ist der Schlüssel!«
    Mit diesen Worten legte er den Schlüssel auf den Schreibtisch neben das Geld. Auf der eichenen Tischplatte klang das wie ein Peitschenknall. Séraphin schaute starr auf den Schlüssel. Er war groß, krumm, rundum abgenutzt und mit goldgelben Flecken überzogen, die sich wie Flechten auf ihm ausgebreitet hatten.
    Der Notar erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Er nahm die Scheine und die Münzen und legte beides in einen für diesen Zweck vorbereiteten Umschlag, den er Séraphin zusammen mit dem Schlüssel überreichte.
    »Bitte sehr!« sagte er. »Prüfen Sie die Unterlagen genau, und falls Sie etwas zu beanstanden haben sollten, scheuen Sie sich nicht, es mir mitzuteilen!«
    »Oh, ich bin sicher, daß alles seine Richtigkeit hat«, sagte Séraphin mit seiner schleppenden Stimme.
    Der Notar bemerkte, daß sein Besucher den Schlüssel zwischen seinen großen Fingern rieb und ihn mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Er kam Séraphin tatsächlich eigentümlich kalt vor, dafür, daß er an einem Frühlingsmorgen aus einem so behaglichen Ort wie der Schreibtischschublade dieses Notars geholt worden war. Er blieb breitbeinig mitten im Zimmer stehen und konnte sich nicht zum Weggehen entschließen.
    »Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« fragte Maître Bellaffaire.
    »Wenn Sie gestatten, Herr Notar, ich hätte da noch eine Frage … Fast jeden Monat, als ich an der Front war, da bekam ich von hier ein Päckchen. Wissen Sie vielleicht, von wem die kamen?« »Päckchen? Nein …« Er verbesserte sich: »Sie müssen von meinem Vater gekommen sein, er war ja so großzügig …«
    Séraphin schüttelte den Kopf. »Ihr Vater ist doch 1916 gestorben, oder?«
    »Ja, schon«, räumte Maître Bellaffaire ein.
    »Also kann er es nicht gewesen sein. Ich habe die Päckchen bis zum Ende, bis zum letzten Monat, bekommen, bis kurz vor der Entlassung aus der Armee.«
    »War denn kein Absender angegeben?« »Nein, nie.«
    »Dann wird es wohl irgendeine gute Seele gewesen sein. Es gibt ja so viele gute Menschen auf dieser Welt!«
    Um ihn zum Gehen zu bewegen, versuchte Maître Bellaffaire seinen Arm auf Séraphins Schulter zu legen. Daraus wurde nichts. Er mußte den Arm zu weit nach oben strecken, und so hatte die Geste nichts Begütigendes mehr.
    »Hat man wenigstens anständig für Sie gesorgt?« erkundigte er sich.
    »Ich habe eine Stelle als Straßenarbeiter.«
    »Als Straßenarbeiter!« begeisterte sich Maître Bellaffaire.
    »Das ist ja großartig … Beim Straßenbauamt gibt es immer etwas zu tun. Und die Rente nicht zu vergessen!« Du Glückspilz! Er sprach das Wort nicht aus, dachte es aber so
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