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Das entschwundene Land

Das entschwundene Land

Titel: Das entschwundene Land
Autoren: Astrid Lindgren
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Langstrumpf ist so geboren worden, und ihren Namen schenkte mir ein Kind, das dazu ein Märchen erzählt haben wollte. Dasselbe Kind wollte auch ein Märchen zu einem anderen Namen haben: Herr Lilienstengel. Nur ganz nebenbei erfuhr ich, daß Herr Lilienstengel ein netter, fliegender Onkel sei, der immer dann zu Besuch kam, wenn kein Erwachsener da war. Und das Kind kriegte sein Märchen. »Im Land der Dämmerung« habe ich es genannt.
    Jahre später tauchte Herr Lilienstengel wieder auf, doch ohne mich zu fragen, hatte dieser Ra ck er inzwischen seinen Charakter geändert, und wie gründlich! So unleidlich und hochnäsig war er geworden, daß man ihn nicht mal mit der Feuerzange hätte anfassen wollen! Er selber freilich hielt sich für einen »schönen, grundgescheiten und gerade richtig dicken« Mann in seinen besten Jahren. Ein netter, kleiner Herr Lilienstengel war er bei Gott nicht mehr, und deshalb mußte er zwangsläufig auch anders heißen. Ganz anders! Warum aber ausgerechnet »Karlsson vom Dach«?
    Als kleines Mädchen ging ich für mein Leben gern mit unseren zerrissenen Schuhen zum Schuster, ja, denn bei ihm an der Wand hingen zwei schauerliche Farbdrucke, die es mir angetan hatten. Der eine stellte in einer Bildfolge dar, wie übel es dem Propheten Jona erging, der in Ninive predigen sollte, statt dessen aber von einem gewaltigen Fisch verschlungen wurde. Der zweite gefiel mir noch besser und war noch grauslicher. Darauf war ein bedauernswerter Mann zu sehen, der von einer Riesenschlange erwürgt wurde. Der Schuster, dem diese Schätze gehörten, hieß Karlsson und wurde von allen Leuten »Karlsson vom Faß« genannt. Der Rhythmus dieses Namens muß wohl in mir herumgespukt haben, als ich mich gezwungen sah, Herrn Lilienstengel umzutaufen. Er wurde zu »Karlsson vom Dach«, hatte mit dem braven Schuster im übrigen aber nichts gemein.
    Ein anderer Name! »Sunnanäng« stand an eine m kalten, rauhreifglitzernden Tag so verlockend auf einem Wegweiser am Siljansee, und »Sunnanäng« klang es mir noch lange in den Ohren. So lange, bis schließlich zwei bitterarme und von Winterkälte und Frost gepeinigte kleine Kinder von irgendwoher gewandert kamen und ihre Sehnsucht gestillt und ihre frierenden Glieder gewärmt haben wollten auf der »Sonnenau« des ewigen Frühlings. Ein bereifter Wegweiser – so ka m der Hecht diesmal aus dem Fischkasten!
    Als ich so klein war, daß ich die Schuhe noch nicht zum Schuster bringen konnte, erfreute mein Großvater, der bei uns wohnte, seine Enkel oft mit einem alten Reim. Er lautete so:
    Tu, tu, tu,
    Schafe weit und breit,
    heut wie allezeit,
    so groß ist die Himmelsweid

    Dazu stieß er mit einem Stock im Takt der Worte auf die Dielen, und immer, wenn er zur letzten Zeile kam, diesem »So groß ist die Himmelsweid'«, hob er den Stock hoch und beschrieb damit einen Kreis in der Luft, um zu zeigen, wie groß die Himmelsweide se i . Nun kannten wir zwar die Kuhweide und die Schafweide, aber eine Himmelsweide war etwas ganz anderes und Märchenhaftes.
    Später habe ich selber dieses »Tu, tu, tu« viele Male, viele Jahre hindurch mit vielen Kindern gespielt, und nichts geschah. Eines Tages aber hüpften sie plötzlich hervor, weiß und wollig – Schafe weit und breit, heut wie allezeit -, und wurden zu einem Märchen. »Die Schafe auf Kapela« heißt es.
    Auch Michel in Lönneberga war zuerst nur ein Name, nur so schnell dahingesagt, um einen kleinen Schreihals zum Schweigen zu bringen – »Rat mal, was Michel in Lönneberga einmal gemacht hat?« Und da verstummte der Schreihals, denn natürlich wollte er unbedingt wissen, was denn dieser Michel in Lönneberga angestellt hatte. Wer dieser Michel war, davon hatte ich selber noch keine Ahnung, und es war mir lange Zeit auch ganz gleichgültig. Urplötzlich aber, ohne daß ich wußte wie, kam Leben in den Schlingel, und er fing mit seinem Unfug an und war nicht mehr zu bändigen.
    Bisweilen kommen einem die »Einfälle« genauso wirklich vor wie lebendige Menschen, und für meinen alten Vater Samuel August wurde Michel so nach und nach zu eine m Jungen, der fast tatsächlich existierte. Wahrscheinlich hat er sich mit Michel verwandt gefühlt und sich von seinem Altmännerbett im Pflegeheim in das eigene Schlingelalter einer entschwundenen Zeit und Welt zurückgeträumt, wo auch dieser Michel zu Hause war. Damals, als Michel barfuß in Lönneberga herumlief, war auch Samuel August so ein kleiner sm å l ändischer Steppke
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