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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Autoren: Tiziano Terzani
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Zelle vor ein Blatt Reispapier setzt, den Pinsel ergreift, ihn ins Tintenfass taucht, sich sammelt und mit äußerster Konzentration einen Kreis malt, der sich schließt. Einen Kreis, der nicht mit dem Zirkel gezogen wird, sondern mit der letzten Handbewegung auf dieser Erde. Das Leben, das sich schließt.
    In Wirklichkeit ist es dieser Kreis, den ich jetzt zu schließen suche.
    Ich glaube, das Eremitendasein hat mir den Sinn für die unglaubliche, allgegenwärtige Vergänglichkeit geschärft. Zu erkennen, dass alles vergänglich ist, ist das Allerschönste. Und wirklich anzunehmen, was Asien schon lange begriffen hat, dass es keine Freude ohne Leid gibt, keine Wonne ohne Schmerz. Dann löst du dich, nimmst Abstand, aber nicht aus Gleichgültigkeit den anderen gegenüber. Du kannst sie weiter lieben, doch du hängst von dieser Liebe nicht sklavisch ab, denn auch das Leben derer, die du liebst, vergeht.
    Dieser herrliche, ewige Friedhof, den wir Erde nennen, wird weiter bestehen. Das ist alles. Staub und Asche. Und dann wieder Wiese. Das macht mich keineswegs traurig, muss ich sagen, im Gegenteil.
    Saskia tritt aus dem Haus, den kleinen Nicolò auf dem Arm, der zufrieden quäkt.
    SASKIA: Komm, mach ein Bäuerchen …
    TIZIANO: Das ist das Schöne am Leben, nicht? Du wirst geboren … sieh ihn dir an!
    Er zeigt auf seinen kleinen Enkel.
    Anfangs ist er nichts, doch mit jedem Tag wird er mehr er, häuft Erfahrungen, Gespräche, Erinnerungen an, Weisheit, wenn du willst, Erfolge und Misserfolge. Und all das verschafft ihm seine Identität. So wird er allmählich zu Nicolò. Mit jedem Tag kommt ein Stückchen dazu.
    Wenn ich zurückblicke, sehe ich einen kleinen Jungen, der arm in einer Stadt geboren wurde und versucht hat, sich aus seinen engen Verhältnissen zu befreien, und zwar nicht durch Geld oder Macht, nicht durch die Errichtung eines großen Reichs, sondern indem er sich eine Identität aufgebaut hat, indem er versucht hat, jemand zu werden, der die Welt verändert … Natürlich habe ich nichts verändert, aber das war mein Plan. Dafür habe ich Jura studiert, deshalb habe ich mich für bestimmte Dinge entschieden und gegen andere, deshalb bin ich nicht Bankdirektor, sondern Journalist geworden. Das ist die Geschichte meiner Entwicklung, wie ich Journalist, Reisender, Schriftsteller, all das geworden bin, was ich war. Und ich finde es wunderschön, dass alles, was ich aufgebaut habe am Ende - krach! - wieder zusammenfällt. Nun bin ich nichts mehr, will ich nichts mehr sein, suche ich nichts mehr zu sein. Ich bin nicht mehr Tiziano Terzani. Ein ganzes Leben zu leben, um niemand zu werden, das ist schon ein bisschen seltsam.
    Vieles bin ich gewesen, doch am Ende bin ich nichts.

Papa hat einen weiteren Tag draußen gesessen und ins Tal geblickt, stumm. Es ist Ende Juli. Die ganze Familie ist nun hier versammelt, auch mein kleiner Sohn ist angekommen. Gestern Abend hat Papa ihn beobachtet, wie er vor dem Zubettgehen mit seinen Actionfiguren spielte. In der Nacht ist ein gewaltiges Gewitter losgebrochen, das erste dieses Sommers, mit taghellen Blitzen, krachendem Donner, unter dem das ganze Tal erbebt ist, und strömendem Regen. Als ich morgens aufwache, denke ich an Papa, allein in seiner Gompa, und habe das Gefühl, dass er vielleicht nicht mehr ist. Doch als ich ins Wohnzimmer hinunterkomme, sitzt er auf dem Sofa.
    TIZIANO: ICH WILL REDEN!!!
    FOLCO: Da bin ich, ich höre.
    TIZIANO: Sehr gut.
    Ich mache mir schnell eine Schale mit Müsli und Milch und schlinge das Müsli hinunter.
    Iss auf. Wenn du fertig bist, können wir …
    Seine Stimme ist schwach und kaum zu vernehmen.
    ANGELA: Wenn er fertig ist, können wir gehen?
    SASKIA: Reden.
    TIZIANO: Reden.
    ANGELA: Ach so, reden, ja.
    TIZIANO: Iss auf.
    ANGELA: Er ist fertig.
    FOLCO: Ich bin fertig.
    Ich stelle die Schale weg und setze mich.
    ANGELA: Da ist er.
    SASKIA: Willst du dich hierher setzen?
    FOLCO: Nein, nein, das geht schon.
    TIZIANO: Du hast mir kürzlich eine schöne Frage gestellt: was ich sehe, wenn ich die Welt betrachte. Da ist etwas Seltsames, und auch der erste Teil … der erste Teil ist so, dass …
    Er ist außer Atem, er schnappt nach Luft.
    Früher habe auch ich die Welt unterteilt gesehen, unterteilt. Ich sah mich von dem, was ich sah, getrennt. Ich sah mich, wie ich mich betrachtete. Dann ist etwas geschehen, und zwar ist geschehen, dass ich sie vereint sehe. Ich sehe die Trennung nicht mehr. Davor sah ich die Welt in Stücken. Ich sah
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