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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Autoren: Tiziano Terzani
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gründlichem Nachdenken aber ganz bewusst beschlossen, auf den letzten Wunsch, nämlich den, mit meiner Familie zusammenzubleiben, nicht zu verzichten. Ich fände es unfair, einfach zu verschwinden, um meinen Bauchnabel zu betrachten. Daher habe ich den Entschluss gefasst, dieses letzte Band zur menschlichen Gesellschaft, und zwar nicht nur zu euch, sondern vor allem zu Mama, nicht zu durchtrennen. Ich habe diesen Schritt nicht tun wollen und ich werde ihn nicht tun, denn es ist wunderbar, ihre herrliche, lächelnde Gegenwart bis zum Schluss zu genießen.
    Das war meine Entscheidung. Die mir übrigens die Verachtung meines Alten eingebracht hat, denn er meinte, dieser Verlockung nachzugeben, sei ein Ausdruck von Schwäche. Der hat gut reden!
    Saskia lacht.
    Natürlich weiß ich, dass jeder das allerletzte Stück auf diesem Weg vollkommen allein zurücklegen muss. Diese Erfahrung kannst du nicht an der Hand eines anderen machen. Doch bis zum Gate, wenn du so willst, wenn das Bewusstsein sich ausdehnt, möchte ich an der Hand deiner Mutter gehen. Ist das eine Antwort auf deine Frage?
    SASKIA: Ja.
    TIZIANO: Auch weil ich ehrlich davon überzeugt bin, dass Extremismus in jedem Fall ein Irrtum ist, weißt du? Denk doch mal an die Unbeugsamkeit des Asketen. Sie ist ein Fehler. Der richtige Weg ist stets der Mittelweg. In zügelloser Askese zu leben, ist unmöglich. Dazu gibt es eine schöne Geschichte von Buddha. Da er seinen Körper als schwere Bürde und Konditionierung empfand, beschloss er, sich noch zu Lebzeiten von ihm zu lösen. Der Legende nach lebte er sieben Jahre lang im Wald und aß jeden Tag nichts als ein Reiskorn. Im Museum von Lahore steht eine Statue aus der Zeit von Gandhara, die einen ganz ausgemergelten Buddha darstellt. Jede Rippe, jede Ader ist zu sehen. Doch schließlich wurde ihm klar, dass er es zu weit getrieben hatte. Auf dem Weg zur Befreiung war ihm ausgerechnet sein ausgezehrter Körper zum Hindernis geworden. Was tat er also? Er setzte sich wieder in Bewegung, begegnete einer jungen Frau, die ihm die erste Schale Milch anbot, und begann wieder zu essen.
    Der Mittelweg, immer. Zwischen Askese und Hedonismus gibt es immer den mittleren Weg. Man darf weder vom Genuss abhängen, noch sklavisch eine Idee von Größe verfolgen, die durch Askese zu erreichen wäre. Tatsächlich haben sich viele Mystiker im Grunde verirrt und in ihrer asketischen Entschlossenheit, Gott zu begegnen, fast den Verstand verloren.
    Du begegnest Gott schon. Auch er begeht den Mittelweg.
    Und dies ist mein Mittelweg. Ich bin auf nichts mehr angewiesen und von nichts mehr abhängig, nicht einmal den Wunsch nach einem längeren Leben habe ich mehr, wie du siehst. Es stimmt, ich bin mit meiner Familie zusammen; aber ich habe mich auch von ihr gelöst.
    SASKIA: Jeder muss seinen eigenen Weg gehen.
    TIZIANO: Hmm. Weißt du, warum Buddha, der „Erleuchtete“oder „Erwachte“, diesen Begriff benutzte? Weil wir unser ganzes Leben verschlafen. Unser Bewusstsein schläft, wir benutzen es nur, um uns Vorteile zu verschaffen oder die Kunden der Firma, für die wir arbeiten, übers Ohr zu hauen.
    Und plötzlich kommt jemand und sagt: „Wach auf!“
    Was ist unser Geist nicht für ein unglaubliches Instrument! Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern von heute, die ihre Experimente im Labor machen, bestand die Größe der indischen Rishis vor vier-, fünftausend Jahren darin, sich hinzusetzen und ihren Geist zu beobachten, ihr Bewusstsein zu studieren und all seine Veränderungen zu registrieren. Denk nur, aus deinem Körper und deinem Geist ein Labor zu machen!
    SASKIA: Und im Westen?
    TIZIANO: Da hat es das auch gegeben, in der Vergangenheit. Was wir heute Mittelalter nennen, war eine der interessantesten Epochen unserer Kultur. Damals hatte der Mensch eine starke Beziehung zum Göttlichen. Doch dann hat die Wissenschaft die Oberhand gewonnen und der Religion ihren Platz streitig gemacht. Natürlich ist die Wissenschaft etwas Großartiges, sie trägt enorm zur Bequemlichkeit unseres Lebens bei. Wenn es regnet, gibt sie uns ein Dach, wenn wir Hunger haben, gibt sie uns zu essen. Doch jenseits davon gibt sie uns nichts. Und sie nimmt uns den Himmel, denn mit ihrem Anspruch, alles zu sein, behindert sie die anderen Bedürfnisse des Menschen.
    Ich will die Wissenschaft oder die Moderne gar nicht verteufeln, doch wieder einmal geht es darum, ein Gleichgewicht zu finden, den Mittelweg. Ein Teil von uns - das Herz, die Liebe, die Intuition -
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