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Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Titel: Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte
Autoren: Peter Heller
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toten Wälder schwanken und knistern, die lebendigen Wälder rauschen. Der Moschusduft der markierten Reviere. Die Bachläufe, an deren Ufer ich um eine Forelle bete. Um einen einzigen Saibling. Um einen riesigen, uralten Überlebenden, dessen grüner Schatten über den grünen, moosbewachsenen Steinen steht.
    Dreizehn Kilometer über die offene Ebene bis zum Fuß der Bergkette, zu den ersten Bäumen. Das ist unser Reich, unsere Sicherheitszone. Das ist meine Aufgabe.
    Seine Feuerkraft richtet er gen Westen aus. So tickt Bangley. Denn in alle anderen Richtungen kann man das Grasland fünfzig Kilometer weit überblicken, das ist mehr als ein Tagesmarsch; nach Westen hingegen sind es nur ein paar Stunden bis zum ersten Baum. Fünfzehn Kilometer südlich von uns leben ein paar Familien, aber die lassen uns in Ruhe. Die Familien, so nenne ich sie. Etwa dreißig Mennoniten mit einer Blutkrankheit, die kurz nach der Grippewelle kam. Eine tödliche, wenn auch nur langsam voranschreitende Infektion. So wie AIDS vielleicht, nur ansteckender. Die Kinder kommen damit auf die Welt, sie sind schwach und krank, und jedes Jahr sterben ein paar von ihnen.
    Wir haben unsere Zone unter Kontrolle. Es sei denn, jemand würde sich in einer der alten Scheunen verstecken. Im Salbeigestrüpp. Zwischen den verkrüppelten Weiden am Bach. Es gibt auch ein paar ausgetrocknete Wasserläufe mit unterspültem Ufer. Einmal wollte Bangley wissen, woher ich die Sicherheit nehme. Woher ich wisse, dass sich niemand in unserer Zone, auf dem riesigen Gelände, versteckt hat. Dass niemand auf eine Gelegenheit lauert, uns zu überfallen. Die Sache ist die: Ich sehe alles. Ich kenne die Landschaft auswendig, so wie ein Buch, das ich unzählige Male gelesen habe. So wie manche Leute früher die Bibel. Ich würde es sofort merken. Ein Satz an der falschen Stelle. Eine Lücke. Zwei Punkte hintereinander. Ich weiß es einfach.
    Ich bin mir sicher: Falls – nein, wenn – ich sterbe, wird es auf einem meiner Ausflüge ins Gebirge sein. Auf dem Rückweg mit dem beladenen Schlitten. Auf der Ebene, mit einem Pfeil im Rücken.
    Vor langer Zeit schenkte Bangley mir eine der schusssicheren Westen aus seinem Arsenal. Er hortet da alles Mögliche. Er behauptet, die Weste würde Pistolenschüsse abhalten und jeden Pfeil; bei einem Gewehr sähe die Sache allerdings schon anders aus. Dann würde ich Glück brauchen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Angeblich sind wir, von den Familien im Süden abgesehen, die einzigen Menschen in einem Umkreis von mehreren hundert Quadratkilometern, die einzigen Überlebenden. Und ich soll Glück brauchen? Ich trage die Weste, weil sie wärmt, außer im Sommer, da trage ich sie meistens nicht. Wenn ich sie trage, fühle ich mich so, als warte ich auf etwas. Würde ich zum Bahnhof gehen und auf einen Zug warten, der seit Monaten nicht gekommen ist? Vielleicht. Manchmal fühlt sich unser Leben genau so an.
    *
    Am Anfang war die Angst. Die Angst war schlimmer als die Grippe, immerhin konnte ich schon wieder laufen und sprechen. Gut, ich sprach nicht wirklich viel, aber ich war wieder in einer stabilen körperlichen Verfassung. Ob sich mein Verstand erholt hat, müssen Sie beurteilen. Zwei Wochen durchgängiges Fieber, davon drei Tage zwischen vierzig und einundvierzig Grad. Mein Gehirn wurde gekocht, so viel ist klar. Eine Enzephalitis oder so was in der Art. Mir war unerträglich heiß. Gedanken, die früher stimmig waren, die zusammengehörten, wirkten plötzlich fehl am Platz, verunsichert, deprimiert, so wie die zotteligen Norwegerponys, die dieser russische Wissenschaftler in Sibirien auswildern wollte. Ich hatte davon gelesen. Er wollte auf einer Graslandschaft mit der geeigneten Fauna und ein paar Menschen die Eiszeit nachstellen. Hätte er gewusst, was auf ihn zukam, hätte er sich bestimmt einen anderen Zeitvertreib gesucht. Die Hälfte der Ponys starb sofort, vermutlich am schlimmen Heimweh nach den skandinavischen Wäldern. Die andere Hälfte wurde vor der Forschungsstation mit Getreide gefüttert und starb trotzdem. So ähnlich geht es manchmal meinen Gedanken, wenn ich unter Stress stehe. Wenn etwas an mir nagt und sich nicht abschütteln lässt. Die meisten meiner Gedanken sind ganz gut, damit will ich sagen: Sie sind zielführend. Aber allzu oft scheinen sie deplatziert, irgendwie traurig, so als fragten sie sich, ob sie nicht vielleicht doch an einen Ort achttausend Kilometer von hier gehören in einen kalten, mehrere
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