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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
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Steine und sah Jean-Paul zu. Er kniete sich hin und öffnete die Tasche, blickte lange hinein, berührte kurz das Haar und die blauen Stoffetzen. Er sah hoch und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich erinnerte mich plötzlich, daß ich sein blaues Hemd trug. Das Blau mit dem Rot.
    »Ich habe es nicht mit Absicht angezogen, wirklich«, sagteich. »Ich habe nicht gewußt, daß du hier sein würdest. Sylvie hat mich überredet, es anzuziehen. Sie sagt, daß ich nicht genug Farbe trage.«
    Er lächelte.
    »Ach, übrigens, ich habe herausgefunden, daß Goethe eine Nacht in Moutier übernachtet hat.«
    Jean-Paul schnaubte. »Pah, das ist nichts Besonderes. Er hat überall einmal übernachtet.«
    »Ich nehme an, daß du alles von Goethe gelesen hast.«
    »Was hast du mal gesagt? Nur du kannst jetzt von jemandem wie Goethe anfangen.«
    Ich lächelte. »Touché . Jedenfalls tut es mir leid, daß ich dein Hemd mitgenommen habe. Und es ist – ich hatte eine Art Unfall damit.«
    Er musterte es. »Sieht doch ganz in Ordnung aus.«
    »Du hast den Rücken nicht gesehen. Nein, das zeig ich dir jetzt nicht. Das ist eine andere Geschichte.«
    Jean-Paul zog den Reißverschluß der Tasche zu.
    »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Aber vielleicht ist das zu verstörend für dich.«
    »Nichts kann mich mehr verstören, als alles, was schon passiert ist.«
    »Ich will hier graben. Direkt unter dem Kamin.«
    »Warum?«
    »Nur eine Theorie.« Er kniete sich neben die Überreste des Herdes. Viel war nicht davon übrig. Es war ein großer Granitbrocken gewesen, wie der in Moutier, aber er war in der Mitte gesprungen und bröckelte vor sich hin.
    »Ich will sie nicht da begraben, falls du das denkst«, sagte ich. »Das ist der letzte Ort, an den ich sie legen möchte.«
    »Nein, natürlich nicht. Ich möchte nur nach etwas suchen.«
    Ich sah ihm eine Zeitlang zu, wie er Steine zur Seite schob, kniete mich dann hin und half ihm, wobei ich die größeren Brocken vermied und gut auf meinen Bauch aufpaßte. Dann saher meinen Rücken, fuhr die Blutlinie auf dem Hemd mit dem Finger nach. Ich blieb vornübergebeugt, während meine Arme und Beine von einer Gänsehaut kribbelten. Jean-Paul bewegte seine Hand an meinem Rücken und Nacken hoch, spreizte die Finger und zog sie wie einen Kamm durch mein Haar.
    Seine Hand hielt inne. »Du willst nicht, daß ich dich anfasse«, sagte er; es war eine Feststellung, keine Frage.
    »Du wirst mich nicht anfassen wollen, wenn du alles gehört hast. Noch habe ich dir nicht alles erzählt.«
    Jean-Paul ließ seine Hand fallen und nahm die Schaufel. »Erzähl’s mir später«, sagte er und fing an zu graben.
    Ich war nicht wirklich überrascht, als er die Zähne fand. Er hielt sie mir schweigend hin. Ich nahm sie, öffnete die Sporttasche und holte das andere Paar heraus. Sie hatten die gleiche Größe: Kinderzähne. Sie fühlten sich spitz an in meinen Händen.
    »Warum?« sagte ich.
    »In manchen Kulturen vergraben die Leute etwas im Fundament, wenn sie ein Haus bauen. Tierkörper, manchmal Schuhe. Manchmal, nicht sehr oft, Menschen. Dahinter steht die Vorstellung, daß ihre Seelen so im Haus bleiben und böse Geister vertreiben würden.«
    Es war lange still.
    »Du meinst, sie wurden geopfert. Diese Kinder wurden geopfert.«
    »Vielleicht. Wahrscheinlich. Es ist jedenfalls sicher kein Zufall, in beiden Häusern unter dem Herd Knochen zu finden.«
    »Aber – sie waren Christen. Sie sollten Gott fürchten, keinem Aberglauben anhängen!«
    »Die Religion hat es nie geschafft, Aberglauben ganz auszurotten. Das Christentum war wie eine Schicht über den älteren Riten und Glauben – es deckte sie zu, aber sie verschwanden nicht ganz.«
    Ich sah die Zähne an und fröstelte. »Gott, was für eine Familie.Und ich gehöre auch dazu. Ich bin auch eine Tournier.« Ich fing an zu zittern.
    »Ella. Du bist weit davon entfernt«, sagte Jean-Paul sanft. »Du gehörst ins zwanzigste Jahrhundert. Du bist nicht für ihre Taten verantwortlich. Und denk daran, daß genausoviel von der Familie deiner Mutter in dir ist wie von der deines Vaters.«
    »Aber ich bin trotzdem eine Tournier.«
    »Ja, aber du mußt nicht für ihre Sünden büßen.«
    Ich starrte ihn an. »Ich habe dich dieses Wort noch nie benutzen hören.«
    Er zuckte die Achseln. »Schließlich bin ich katholisch aufgewachsen. Manche Dinge kann man nie ganz ablegen.«
    Sylvie tauchte in der Ferne auf, und weil sie, von Blumen und Kaninchen abgelenkt, im Zickzack rannte,
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