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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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vermuten, weil sonst doch nicht Seelenwissenschaftszweige aufgeblüht wären, die sich mit der Erkundung und Benennung und vor allem mit der Bewertung der Gedankenvermeidung beschäftigen. Ich muss nur den Paradeausdruck für dieses trivialisierende Erforschen nennen: die Verdrängung.
    Gute Nacht ruft aus der alles umarmenden Wildnis Dir Deine Freundin zu,
    Maja

    Von meinem iPhone gesendet

20
    Chapman Lake, 10. Juli 2011
    Lieber Freund,
    hast Du das gesagt: Wir haben mit dem Unmöglichen geflirtet?
    Seit ich durch die Wildnis radle, weiß ich, dass es stimmt. Inzwischen regnet es. Die Schotterstraße wird seifig, glitschig, alle paar Kilometer halten und den Schlamm von den Schutzblechen kratzen. Der Reißverschluss am Zelt ist inzwischen irreparabel unbrauchbar. Wir kriechen unten hinein und heraus. Die black flies sind ins Zelt gekommen und beschäftigen sich gierig mit uns. Der Muskol-Spray stört sie kein bisschen. Die squirrels haben die Riemen unseres Trailers durchgebissen. Der Wind ist gnadenlos. Und nur noch in die falsche Richtung. Anstiege ohne Ende. Kurze Abwärtsstrecken. Wenn man’s aushält, heißt das nicht, dass es erträglich ist.
    Obwohl Korbinian jetzt gesund ist, spüre ich, was er durchgemacht hat, auch als etwas Trennendes. Als hätte er eine Affäre gehabt mit einer anderen. Und ich müsste fürchten, dass er immer noch an die denkt. Drei Tage nach der Operation hat er gesagt: Ich war schwanger. Ich hatte den Tod im Bauch. Ich habe abgetrieben. Jetzt weiß ich, wie Frauen nach einer Abtreibung zumute ist. Jetzt ist er gesund. Er demonstriert es mir jeden Tag. Aber die Affäre … Es gibt keinen schrecklicheren Unterschied als den zwischen einem Kranken und einem Gesunden.
    Wenn das so weiterregnet, werden wir Eagle Plains nie erreichen. Ob das zu bedauern wäre? Je näher wir Eagle Plains kommen, desto wirklicher wird die Unmöglichkeit, unsere Unmöglichkeit. Ob ich noch einmal mit ihr flirten könnte, weiß ich nicht. Gestern Nacht habe ich geträumt, Korbinian reicht mir zum Geburtstag nicht den üblichen 39-Rosen-Strauß, sondern einen Strauß Schierlingsblüten. Vergiss es!
    Gute Nacht, mein allzu Vorstellbarer.
    Maja

    Von meinem iPhone gesendet

21
    Eagle Plains, 25. Juli 2011
    Mein Freund,
    stell Dir, bitte, vor, ich stottere. Wenn Du Dir das nicht vorstellen kannst, dann kannst Du Dir mich nicht vorstellen. Nicht mehr. Als wir vor fünf Tagen Eagle Plains erreichten, abends um sieben bei immer noch geradezu wütend prasselnden Regengüssen, standen in der Lodge fünf oder sieben Truck-Fahrer und brachen, als sie uns sahen, in ein großes Gelächter aus. Unser Anblick ist sicher komisch, aber dieses Gelächter hat einen anderen Grund: Sie hatten gewettet, ob die crazy Germans Eagle Plains erreichen würden oder nicht. Wir hatten, auch wegen des Regens, in den Ogilvie Mountains drei Tage auf besseres Wetter gewartet und waren dann aufgebrochen, um auf dem täglich matschiger werdenden Schotter-Highway Eagle Plains zu erreichen. Schwerer war noch nichts. Auch das Räderschieben auf endlosen Steigungen war schier nicht zu schaffen, weil man im Schlamm nur noch ausrutschen konnte. Also dass die Wetten abschlossen über die zwei crazy Germans, darf einen nicht wundern. Ich habe gleich klargemacht, dass diese Trucker für den Rest des Tages unsere Gäste sein würden. Bei unserem beliebten Yukon Gold -Bier!
    Wir haben hier ein cabin für uns. Das sind Ein-Zimmer-Häuschen mit Dusche und Klo. Ich bin am Ziel. Ob Korbinian auch am Ziel ist, wage ich (noch) nicht zu fragen. Er studiert auf jeden Fall keine Karten mehr. Und Roderich, der einen Tag nach uns eingetroffen ist, fragt auch nicht, wie es weitergeht. Wenn es nie mehr aufhören würde zu regnen, würde es nie mehr weitergehen.
    Korbinian hat bemerkt, dass an meinem Hinterrad zwei Speichen weggebrochen sind. Es gibt im Ort eine Werkstatt. Korbinian hat offenbar auch keine Lust, nach Speichen zu suchen. Ich fotografiere noch das Ortsschild von Eagle Plains, dann übergebe ich den Apparat der Wirtin. Sie wird ihn der Kollegin Evelyn auf dem Gold Rush Campground in Dawson City geben. 350 km. Und Evelyn schickt uns die Bilder.
    Das fotografierenswürdige Ortsschild sagt: Eagle Plains 9 inhabitants.
    Alles andere seien kurzfristig hier Beschäftigte.
    Korbinian trinkt zwar mit, aber am Gespräch beteiligt er sich heute weniger denn je. Nicht, solange noch andere Touristen oder Trucker am Tisch sind. Erst wenn er mit mir allein ist,
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