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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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vernehmen, der Geist, unvollendete Dramen zu erfassen, das Auge, einen verborgenen Lichtschein zu erspähen. Hartnäckiger Staub hatte seinen leichten Schleier über alle Gegenstände gebreitet, deren zahlreiche Kanten und Rundungen die malerischsten Wirkungen hervorriefen.
    Der Fremde verglich diese drei mit den Produkten der Zivilisation, den Zeugnissen der verschiedensten Kulte, mit Gottheiten, Meisterwerken, königlichen Insignien, mit Ausschweifung, Vernunft und Tollheit vollgepfropften Räume zunächst einem Spiegel aus zahlreichen Facetten, deren jede eine Welt zeigt. Nach dem ersten verworrenen Eindruck wollte er einzelne Gegenstände auswählen und genießerisch betrachten; doch nach dem vielen Sehen, Denken und Träumen befiel ihn ein heftiges Fieber, das wohl von dem in seinen Eingeweiden nagenden Hunger herrühren mochte. Der Anblick so vieler Pfänder, die von versunkenen Nationen und dahingegangenen Leben der Menschen zeugten, betäubte vollends die Sinne des jungen Mannes; der Wunsch, der ihn in den Laden getrieben hatte, war erhört worden: er verließ die Wirklichkeit, stieg allmählich zu einer Traumwelt empor, gelangte in den Zauberpalast der Ekstase, wo ihm das Universum bruchstückhaft und in Feuer getaucht erschien, so wie einst vor den Augen des heiligen Johannes auf Patmos die Zukunft flammend vorüberzog.
    Unzählige Gestalten, schmerzbewegte, liebliche und schreckliche, finstere und leuchtende, ferne und nahe, erhoben sich in Scharen, in Myriaden, in Generationen. Vor einer von schwarzen Bändern umwickelten Mumie wuchs starr und geheimnisumwoben Ägypten aus dem Sand; dann die Pharaonen, die um ihrer Grabmäler willen ganze Völker in den Tod trieben; dann Moses, die Hebräer und die Wüste, eine feierliche, uralte Welt. Eine Marmorstatue, auf einem Säulentorso sitzend, frisch, anmutig und von strahlender Weiße, ließ die wollüstigen Mythen Griechenlands und Ioniens vor ihm erstehen. Und wen hätte es nicht gleich ihm entzückt, auf dem feinen roten Ton einer etruskischen Vase ein junges braunhäutiges Mädchen vor dem Gott Priapus tanzen zu sehen, den es mit heiterer Miene grüßte? Gegenüber liebkoste zärtlich eine römische Königin ihre Chimära. [Fußnote: Chimära : in der Mythologie feuerspeiendes Ungeheuer mit Löwenkopf, Ziegenleib und Schlangenschweif] Dort lebten all die Launen des kaiserlichen Roms wieder auf, das Bad, das Lager, die Toilette einer träumerisch trägen Julia, die ihren Tibull erwartet. Mit der Macht arabischer Talismane weckte der Kopf Ciceros die Erinnerung an das freie Rom in ihm und ließ die Seiten des Titus Livius [Fußnote: Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.): römischer Geschichtsschreiber] vor ihm abrollen. Der junge Mann las ›Senatus Populusque romanus‹; [Fußnote: ›Senatus Populusque romanus‹: lat., der Senat und das römische Volk] wie nebelhafte Traumgestalten zogen der Konsul, die Liktoren, die purpurgesäumten Togen, die Kämpfe des Forums, das erzürnte Volk langsam an ihm vorbei. Schließlich übertönte das christliche Rom diese Bilder. Ein Gemälde öffnete die himmlischen Gefilde, er erblickte die Jungfrau Maria inmitten von Engeln auf einer goldenen Wolke, den Glanz der Sonne überstrahlend, wie sie, die wiedererstandene Eva, gütig lächelnd die Klagen der Unglücklichen anhört. Wie er ein Mosaikbild berührte, das aus der verschiedenfarbigen Lava des Vesuv und des Ätna zusammengesetzt war, flog seine Seele in das warme, heißblütige Italien. Er wohnte den Orgien der Borgia [Fußnote: Borgia: mächtiges Adelsgeschlecht im Italien des 15./16. Jahrhunderts] bei, durchstreifte die Abruzzen, warb um die Liebe italienischer Frauen, entbrannte in Leidenschaft für ihr weißes Antlitz mit den schwarzen Mandelaugen. Er schauderte, nächtliche Erfüllung wurde von der kalten Klinge des Ehemanns jäh unterbrochen, als er einen mittelalterlichen Dolch gewahrte, dessen Griff fein ziseliert war und auf dem Rostflecke an Blut gemahnten. Indien und seine Religionen wurden lebendig in einem chinesischen Götzen, angetan mit Gold und Seide, einem spitzen Hut, mit geschwungenen Rauten, rundum mit Glöckchen behängt. Daneben strömte eine Binsenmatte, hübsch wie die Bajadere, die sich einstmals darauf zusammengerollt haben mochte, noch den herben Duft des Sandel aus. Ein chinesisches Ungeheuer mit verdrehten Augen, verzerrtem Mund, verrenkten Gliedern bot der Seele neuen Reiz in der Findigkeit eines Volkes, das, des einförmig Schönen
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