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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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vollen Zügen leerte er den Kelch der Freuden und der Schmerzen, versuchte sich in allen Daseinsformen und verausgabte sein Leben und seine Gefühle so verschwenderisch in den Trugbildern dieser plastischen und doch öden Welt, daß er den Hall seiner Schritte in sich wahrnahm wie den fernen Klang aus einer anderen Welt, wie das Brausen von Paris auf den Türmen von Notre-Dame.
    Als er die Treppe zu den Räumen im ersten Stockwerk hinaufstieg, sah er Votivschilde, Rüstungen, geschnitzte Tabernakel, Holzfiguren, die auf den Stufen standen oder an die Wände gehängt waren. Verfolgt von den seltsamsten Formen, umgaukelt von wunderbaren Schöpfungen aus dem Grenzbereich von Tod und Leben, schritt er im Zauberbann eines Traums dahin. Zuletzt schien ihm seine eigene Existenz fraglich; er war wie diese Kuriositäten weder ganz tot noch ganz lebendig. Als er die neuen Lager betrat, fing es an zu dunkeln; doch Licht schien für die dort angehäuften gold- und silberfunkelnden Schätze überflüssig. Die kostspieligsten Liebhaberstücke von Verschwendern, die in Dachstuben geendet hatten, nachdem Millionen durch ihre Finger geglitten waren, befanden sich in diesem ungeheuren Bazar menschlicher Torheiten. Ein Schreibzeug, einst mit 100000 Francs bezahlt und für 100 Sous aufgekauft, lag neben einem Geheimschloß, dessen Preis dazumal genügt hätte, einen König loszukaufen. Hier zeigte sich der menschliche Geist im ganzen Gepränge seiner Jämmerlichkeit, im vollen Glanz seiner gigantischen Beschränktheit. Ein Tisch aus Ebenholz, ein vollendetes Kunstwerk, nach Zeichnungen von Jean Goujon [Fußnote: Jean Goujon (geb. zwischen 1510 und 1514, gest. zwischen 1564 und 1569): französischer Maler des Barock] geschnitzt, das jahrelange Arbeit gekostet hatte, war vielleicht zum Brennholzpreis gekauft worden. Kostbare Kästchen, Geräte, die von Feenhänden gefertigt schienen, waren gleichgültig übereinandergehäuft.
    »Sie haben hier Millionen!« rief der junge Mann, als er im letzten Raum einer ungeheuren Zimmerflucht angelangt war, die von Künstlern des vorigen Jahrhunderts vergoldet und mit reicher Schnitzarbeit versehen waren.
    »Sagen Sie lieber Milliarden«, erwiderte der pausbäckige junge Mann. »Aber dies hier ist noch gar nichts; kommen Sie erst in das dritte Stockwerk, dann werden Sie sehen.«
    Der Unbekannte folgte seinem Führer und gelangte in eine vierte Galerie, wo an seinen ermüdeten Augen in gedrängter Folge Gemälde von Poussin vorüberzogen, eine herrliche Statue von Michelangelo, einige entzückende Landschaften von Claude Lorrain, [Fußnote: Claude Lorrain , auch Le Lorrain (1600-1682): französischer Maler, Meister der Landschaftsmalerei] ein Gérard Dou, [Fußnote: Gérard Dou , auch Dow (1613-1675): niederländischer Genremaler] der wie eine Szene von Sterne anmutete, Rembrandts, Murillos, [Fußnote: Murillo , Bartolomé Esteban (1617-1682): spanischer Maler, der neben Madonnen- und Heiligenbildern auch realistische Genreszenen schuf] Velasquez', [Fußnote: Velasque, Diego (1599-1660): spanischer Hof- und Porträtmaler ] düster und farbenreich wie ein Poem von Lord Byron, [Fußnote: Byron , George Noël Gordon, Lord (1788-1824): englischer romantischer Dichter, nahm aktiv an der Carbonari-Verschwörung und am griechischen Freiheitskampf teil] überdies antike Basreliefs, Achatkelche, seltene Onyxe! ... Kurzum, es waren Arbeiten, die einem die Arbeit verleiden konnten, Kunstwerke in solcher Unzahl, daß sie einem Widerwillen gegen die Kunst einflößen und die Begeisterung töten mußten. Er stand vor einer Madonna von Raffael, aber er war Raffaels überdrüssig. Selbst für eine Figur von Correggio [Fußnote: Correggio , Antonio (1489-1534): italienischer Maler, Meister des Helldunkel] hatte er nicht einmal mehr den Blick, den sie erheischte. Eine antike Porphyrvase von unschätzbarem Wert, deren rundumlaufendes Relief die grotesk-unzüchtigste aller römischen Priapeen darstellte und einstmals irgendeine Corinna höchlichst ergötzte, entlockte ihm kaum ein Lächeln. Er erstickte unter den Trümmern fünfzig entschwundener Jahrhunderte, er war krank von all diesem menschlichen Gedankengut, erschlagen von Pracht und Kunstwerken, erdrückt von diesen ständig neu erwachsenden Formen, die, wie die Ausgeburten eines boshaften Geistes, unablässig aus dem Boden schossen und ihn in einen schier endlosen Kampf verstrickten.
    Braut die Seele, die in ihrer Veränderlichkeit der modernen Chemie gleicht,
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