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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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ein schlechtes Gedächtnis für die Geschichte, die zu den Gesichtern gehört. Hand aufs Herz, wer kann – ohne Fotos – behaupten, sich daran zu erinnern, wie die Menschen, mit denen er lebt, vor zehn Jahren aussahen? Wo lässt man – in dieser bequemen Zweiteilung von Erinnern und Vergessen – die Erinnerung an ein Ereignis, bei dem man sich der Tatsache bewusst ist, sich jetzt anders als früher daran zu erinnern? Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen ist eher das der geteilten Kontur in der Abbildung einer Gestalt: Man kann nach Belieben das eine oder das andere darin sehen.
    In den vergangenen drei Jahren habe ich versucht, Erinnerung immer wieder in ihrem Zusammenspiel mit dem Vergessen zu sehen. Es scheint mir dabei, dass gerade die schwierigsten Fragen, die man über das Gedächtnis stellen kann, eigentlich vom Vergessen handeln. Warum gibt es zwar ein Gedächtnistraining, aber keine Technik für das Vergessen? Und wenn es sie gäbe, wäre es dann empfehlenswert, sie zu nutzen? Welches Schicksal haben verdrängte Erinnerungen – oder wo halten sie sich auf? Existiert so etwas wie ›Verdrängen‹ überhaupt? Warum haben Porträts und Fotos die Eigenschaft, sich vor die Erinnerung zu schieben? Warum haben wir ein so schlechtes Gedächtnis für Träume? Wie kann es sein, dass ein Kollege zwar Ihre Idee behielt, aber vergessen hat, dass es sich um Ihre Idee handelte? Was macht den Gedanken, dass unser Gehirn von allem, was wir erleben, eine bleibende Spur anlegt, also die Hypothese vom absoluten Gedächtnis, so verführerisch? Warum verfügt jemand mit dem Korsakow-Syndrom zwar noch über einen Teil seines Fachwissens, hat aber vergessen, was er vor fünf Minuten gesagt hat? Was läuft schief im Gehirn eines Menschen, der sich keine Gesichter merken kann?
    2007 beschloss ein Psychologe, eine Strichliste anzulegen, welcheArten von Gedächtnis in der Fachliteratur unterschieden wurden.
Anmerkung
Er kam auf 256. Ob es genau so viele Arten von Vergessen gibt?
    Bei der Auswahl der Aspekte von Vergessen, auf die wir uns in diesem Buch konzentrieren, war ein erster wichtiger Punkt das Vergessen im autobiografischen Gedächtnis, dem Gedächtnistyp, der versucht, unsere persönlichen Erlebnisse festzuhalten, und der unsere besorgte Aufmerksamkeit auf sich lenkt, wenn ihm dies nicht gelingt. Mit dieser Überlegung war sofort das Einstiegskapitel gegeben. Wir werden in unserem Leben noch viel vergessen, aber so bunt wie in den ersten zwei, drei Jahren nach unserer Geburt wird es nicht mehr zugehen. Unsere frühsten Erinnerungen unterstreichen vor allem das Vergessen, von dem sie umgeben werden, und wenn man gut hinschaut, erkennt man, dass in ersten Erinnerungen schon die Vergessensprozesse begründet liegen, die uns später noch viel mehr vergessen lassen werden. Von unseren ersten Erinnerungen können wir lernen, dass die Entwicklung von Sprache und Ich-Bewusstsein dem Gedächtnis auf die Sprünge hilft, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass der Zugang zu früheren Erinnerungen verschlossen wird. Die Tür, die vor einem liegt, öffnet sich erst, wenn die Tür hinter einem geschlossen ist.
    Träume lassen sofort die Tür ins Schloss fallen (S. 49).
    Wir haben ein schlechtes Gedächtnis für Träume. Genau wie unsere ersten Erinnerungen kann das Vergessen von Träumen die Funktion des Gedächtnisses erhellen. Beim Aufwachen erinnern wir uns – zumindest wenn wir Glück haben – an die Schlussszene des Traums, und es beginnt eine mühsame Rekonstruktion in entgegengesetzte Richtung: Was ging dieser Szene voraus? Und was war davor? Warum hat unser Gedächtnis so viele Probleme mit der umgekehrten Chronologie? Was können wir über Träume erfahren, wenn wir auf die Ursachen ihrer Flüchtigkeit achten?
    Eine zweite Überlegung hinsichtlich der Auswahl der Themen für dieses Buch war es, zu zeigen, dass gerade pathologische Formen des Vergessens zu unerwarteten Erkenntnissen bei Gedächtnisprozessen führen können. 1953 unterzog sich der damals siebenundzwanzigjährige Henry Molaison einer radikalen Hirnoperation, um seine epileptischen Anfälle unter Kontrolle zu bringen (S. 81)Mit katastrophalen Konsequenzen: Nach der doppelseitigen Entfernung des Hippocampus war Henry nicht mehr in der Lage, neue Erinnerungen anzulegen. Den Rest seines Lebens verbrachte er in einem dauerhaften Jetzt, in der Breite von nicht einmal einer halben Minute. Aber gerade diese Schädigung machte ihn zu einer idealen Versuchsperson
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