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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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dem wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Im übrigen sind wir falsche Sphinxe und wissen nicht, was wir wirklich sind. Wir können mit dem Leben einzig im Einklang sein, wenn wir mit uns selbst im Mißklang sind. Das Absurde ist das Göttliche.
    Theorien aufstellen, sie mit Geduld und auf ehrliche Weise durchdenken, nur um sie anschließend zu verwerfen – handeln und unser Handeln durch Theorien rechtfertigen, die es verurteilen. Sich einen Weg durch das Leben bahnen und dann, während wir diesem Weg folgen, entgegen diesem Weg handeln. Gesten vollziehen und Haltungen einnehmen in bezug auf etwas, das wir nicht sind, das wir nicht sein wollen und von dem wir auch nicht möchten, daß andere denken, wir seien es.
    Bücher kaufen, um sie nicht zu lesen; Konzerte besuchen, weder um Musik zu hören, noch um zu sehen, wer sich dort sehen läßt; lange Spaziergänge machen, weil wir des Laufens müde sind, und Tage auf dem Land verbringen, nur weil uns das Landleben langweilt.

24
    Heute spürte ich mit jeder Faser meines Körpers jene alte Angst, die bisweilen übermächtig wird, und konnte in dem Restaurant oder Eßlokal, dessen erster Stock mir die Grundlage für mein Weiterleben bietet, weder ordentlich essen noch wie gewöhnlich trinken. Als der Ober bei meinem Fortgehen bemerkte, daß ich die Weinflasche nur halb geleert hatte, drehte er sich nach mir um und sagte: »Bis bald, Herr Soares, und gute Besserung!«
    Beim Fanfarenstoß dieses einfachen Satzes wurde mein Herz so leicht, als hätte plötzlich der Wind einen verhangenen Himmel freigeblasen. Und ich erkannte klar wie nie zuvor, daß mir die Kaffeehaus- und Restaurant-Kellner, die Friseure und die Dienstmänner an den Straßenecken eine spontane, natürliche Sympathie entgegenbringen, die ich mich nicht rühmen kann, von denen zu erhalten, die mit mir auf unzutreffenderweise so genanntem vertrauten Fuße stehen.
    Auch der freundliche Umgang kennt feine Unterschiede.
    Manche regieren die Welt, andere sind die Welt. Zwischen einem amerikanischen Millionär, einem Cäsar, Napoleon oder Lenin und einem sozialistischen Dorfbürgermeister gibt es keinen Unterschied in der Qualität, sondern nur in der Quantität. Wir stehen unter ihnen, wir, die Gestaltlosen, der hitzköpfige Dramatiker William Shakespeare, der Schulmeister John Milton, der vagabundierende Dante Alighieri, der Dienstmann, der mir gestern eine Nachricht zustellte, oder der Friseur, der mir Witze erzählt, und der Kellner, der mir soeben die Freundlichkeit erwies, gute Besserung zu wünschen, weil ich meinen Wein nur zur Hälfte getrunken habe.

25
    Bei diesem Farbdruck ist nichts zu machen. Ich betrachte ihn unverwandt und weiß nicht, ob ich ihn sehe. In dem Schaufenster sind noch andere, und dann dieser. Er thront in der Mitte und versperrt mir die Sicht auf die Treppe.
    Sie preßt den Frühling an ihren Busen und betrachtet mich unverwandt mit traurigen Augen. Sie lächelt mit papiernem Glanz, und ihre Wangen sind von schönstem Rot. Der Himmel hinter ihr ist hellblau, wie gewirkt. Ihr Mund fein gezeichnet, fast klein, und über seinem Postkartenausdruck blicken ihre Augen mich unverändert leidvoll an. Der Arm, der die Blumen hält, erinnert mich an einen anderen Arm. Das Kleid oder die Bluse öffnet sich zu einem bestickten Dekolleté. Die Augen sind wirklich traurig: Sie betrachten mich aus der Tiefe ihrer lithographischen Wirklichkeit, spiegeln eine Wahrheit wider. Sie ist mit dem Frühling gekommen. Ihre traurigen Augen sind groß, aber das ist es nicht. Ich gebe meinen Füßen einen Ruck und reiße mich von dem Schaufenster los. Überquere die Straße, drehe mich um in ohnmächtiger Empörung. Sie hält noch immer den Frühling fest, den man ihr in den Arm gelegt hat, und ihre Augen sind traurig wie alles, was mir nicht vergönnt ist im Leben. Aus der Ferne wirkt das Bild farbiger. Sie trägt ein dunkelrosa Band um ihr hochgestecktes Haar; ich hatte es nicht bemerkt. In menschlichen Augen – selbst auf einem Farbdruck – liegt etwas Schreckliches: das unvermeidliche Anzeichen eines Bewußtseins, der heimliche Schrei, der von einer Seele zeugt. Mühsam erhebe ich mich aus meinem feuchten Schlaf, schüttle wie ein Hund die dunkle Nebelnässe ab. Und als nähmen sie Abschied von etwas anderem, übersehen diese zutiefst lebenstraurigen Augen dieses metaphysischen Farbdrucks, den wir von Ferne betrachten, mein Weggehen und betrachten mich unverwandt, als wüßte ich etwas von Gott. Unter
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