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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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der Abbildung ist ein Kalender, oben und unten von zwei schwarzen, leicht gewölbten und schlecht gemalten Leisten gerahmt. Zwischen diesem Oben und Unten seiner Begrenzung, über der mit einer altmodischen Vignette kunstvoll verzierten Jahreszahl 1929, die den unvermeidlichen 1. Januar verdeckt, lächeln mich ironisch die traurigen Augen an.
    Seltsam, woher ich dieses Gesicht bereits kenne. Hinten in meinem Büro hängt in einer Ecke ein ebensolcher Kalender, mein Blick hat ihn oft gestreift. Doch aufgrund eines Geheimnisses, das in dem Farbdruck liegt oder in mir, drücken die Augen der Doppelgängerin im Büro keinen Schmerz aus. Es handelt sich um einen Farbdruck (der auf Glanzpapier sein verblassendes Dasein über dem Kopf des Linkshänders Alves verschläft), und nichts weiter.
    Über all dies lachte ich am liebsten, doch verspüre ich großes Unbehagen. Und in meiner Seele die Kälte einer plötzlichen Krankheit. Mir fehlt es an der Kraft, mich gegen eine solche Absurdität aufzulehnen. Welchem Fenster zu welchem Geheimnis Gottes könnte ich mich ungewollt genähert haben? Wohin führt das Schaufenster vor dem Treppenabsatz? Was hat es auf sich mit den Augen auf dem Farbdruck? Mich fröstelt fast. Unwillkürlich sehe ich auf zu der Ecke im Büro, wo der echte Farbdruck hängt. Ich kann meinen Blick nicht mehr lösen von dort.

26
    Jeder Gemütsbewegung eine Persönlichkeit zuordnen, jedem Seelenzustand eine Seele.

    Sie kamen um die Wegbiegung, eine Schar junger Mädchen. Singend gingen sie dahin, und ihre Stimmen klangen glücklich. Wer sie waren, weiß ich nicht. Ich hörte ihnen eine Zeitlang von weitem zu, ohne selbst etwas zu empfinden. Doch Kummer ergriff mein Herz.
    War es ihre Zukunft? Ihre Unbewußtheit? Waren wirklich sie es?, oder – wer weiß – vielleicht nur ich?

27
    Literatur, eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit, scheint mir das Ziel, dem alles menschliche Bestreben gelten sollte, wenn es denn wahrhaft menschlich und nicht allzu tierhaft wäre. Ich glaube, eine Sache in Worte fassen heißt ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen. Felder sind grüner in der Beschreibung als in ihrem Grün. Beschreibt man Blumen mit Sätzen, die sie im Bereich des Imaginären definieren, sind ihre Farben von einer Dauer, die ihr zelluläres Leben nicht hergibt.
    Sich bewegen heißt leben, sich in Worte fassen heißt überleben. Nichts im Leben ist weniger wirklich, weil es gut beschrieben wurde. Kleinkarierte Kritiker pflegen zu betonen, ein Gedicht in hymnischen Rhythmen besage letztlich doch nur, daß der Tag schön ist. Doch in Worte fassen, daß der Tag schön ist, ist schwierig, zudem vergeht auch der schöne Tag. Mithin müssen wir den schönen Tag in einem wortreichen, blühenden Gedächtnis bewahren und auf diese Weise die Felder oder Himmel der leeren, vergänglichen äußeren Welt mit neuen Blumen oder neuen Sternen übersäen.
    Alles ist, was wir sind, und alles wird für jene, die in der Vielfalt der Zeit nach uns kommen, so sein, wie wir es uns intensiv vorgestellt haben, das heißt wie wir es, unsere Vorstellungskraft verkörpernd, wahrhaft gewesen sein werden. Ich glaube nicht, daß die Geschichte mit ihrem großen verblichenen Panorama mehr ist als eine Abfolge von Deutungen, ein verworrener Konsens geistesabwesender Zeugen. Romanciers sind wir alle, und wir erzählen, wenn wir sehen, denn sehen ist so komplex wie alles übrige.
    Ich habe in diesem Augenblick so viele grundlegende Gedanken, so viele wahrhaft metaphysische Dinge zu sagen, daß ich mich mit einem Male müde fühle und beschließe, nicht weiterzuschreiben, nicht weiterzudenken, sondern geschehen zu lassen, daß mir das Wortfieber Schlaf schenkt und ich mit geschlossenen Augen alles, was ich gesagt haben könnte, wie eine Katze streichele.

28
    Ein Hauch von Musik oder Traum, irgend etwas, das beinahe fühlen läßt, irgend etwas, das kein Denken erlaubt.

29
    Nachdem die letzten Regentropfen nur noch zögernd von den Dächern fielen und das Blau des Himmels sich zusehends auf der gepflasterten Straßenmitte spiegelte, klangen die Fahrzeuge mit einem Mal anders, höher und fröhlicher, und das Aufgehen der Fenster hin zum Nicht-Vergessen der Sonne war vernehmbar. An der nächsten Ecke der schmalen Straße ertönte der laute Lockruf des ersten Losverkäufers, und die Schläge, mit denen man die Nägel in die Kisten aus dem Laden gegenüber trieb, hallten durch den
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