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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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Leinwand war die Welt, und sie existierte in zwei Dimensionen. Die dritte Dimension befand sich in unserem Kopf.
    Nichts hielt mich davon ab, meine Koffer zu packen und am nächsten Tag abzureisen. Für das laufende Semester hatte ich mir freigenommen, und das nächste fing erst Mitte Januar an. Ich konnte tun, was ich wollte, konnte gehen, wohin meine Beine mich trugen, und falls ich mehr Zeit brauchen sollte, konnte ich auch einfach immer weitergehen, über den Januar hinaus, über den September hinaus, über alle September und Januare hinaus, solange wie es mir gefiel. Denn auch dies zählte zur Ironie meines absurden, erbärmlichen Lebens: Der Tod von Helen und den Kindern hatte mich zum reichen Mann gemacht. Als Erstes kam das Geld von der Lebensversicherung, zu deren Abschluss Helen und ich uns kurz nach Beginn meiner Lehrtätigkeit in Hampton hatten beschwatzen lassen - das beruhigt ungemein, hatte der Mann gesagt -, und da sie in das Gesundheitsprogramm des Colleges integriert war und nicht viel kostete, hatten wir den niedrigen Monatsbeitrag gezahlt, ohne viel darüber nachzudenken. Als das Flugzeug abstürzte, hatte ich gar nicht mehr an diese Versicherung gedacht, aber keinen Monat später tauchte ein Mann bei mir auf und überreichte mir einen Scheck über mehrere hunderttausend Dollar. Wenig später einigte sich die Fluggesellschaft mit den Familien der Opfer, und da ich bei dem Absturz gleich drei Angehörige verloren hatte, bekam ich den größten Batzen aus dem Entschädigungstopf zugeteilt, einen gigantischen Trostpreis für einen willkürlichen Tod und das unerforschliche Walten Gottes. Helen und ich hatten immer Mühe gehabt, mit meinem Gehalt und den gelegentlichen Honoraren auszukommen, die sie mit ihrer freiberuflichen Schriftstellerei erzielte. Tausend Dollar zusätzlich wären uns jederzeit eine enorme Hilfe gewesen. Jetzt hatte ich das Tausendfache, und es bedeutete mir nichts. Als die Schecks bei mir eintrafen, schickte ich die Hälfte des Geldes an Helens Eltern, aber die sandten es umgehend zurück, dankten mir für die Geste, versicherten jedoch, dass sie es nicht haben wollten. Ich kaufte für Todds Grundschule neue Spielplatzgeräte, spendete Marcos Kindergarten zweitausend Dollar für Bücher und einen hochmodernen Sandkasten und bewegte meine Schwester und ihren Mann, einen Musiklehrer, dazu, einen größeren Geldbetrag aus dem Zimmer-Sterbefonds zu akzeptieren. Hätte es noch mehr Menschen in meiner Familie gegeben, würden auch sie etwas bekommen haben, aber meine Eltern lebten nicht mehr, und außer Deborah hatte ich keine Geschwister. Stattdessen stiftete ich, um einen weiteren Batzen loszuwerden, am Hampton College ein Stipendiat auf Helens Namen: das Helen-Markham-Reisestipendium. Die Idee war ganz einfach. Jährlich sollte einem Hochschulabsolventen ein Geldpreis für außerordentliche geisteswissenschaftliche Leistungen zuerkannt werden. Das Geld war zur Finanzierung von Reisen bestimmt, ansonsten waren keinerlei Bestimmungen, Bedingungen oder Ansprüche damit verbunden. Der jeweilige Preisträger sollte von einem turnusmäßig wechselnden Komitee aus Professoren verschiedener Fakultäten (Geschichte, Philosophie, Anglistik, Fremdsprachen) gewählt werden, und solange das Geld zur Finanzierung einer Auslandsreise verwendet wurde, konnten die Markham-Stipendiaten damit machen, was sie wollten; Rechenschaft war nicht erforderlich. Um das zu arrangieren, musste ein gewaltiger Kapitalbetrag angelegt werden, aber so groß dieser Betrag auch war (das Äquivalent von vier Jahresgehältern), er riss nur ein kleines Loch in mein Guthaben, und als mir schließlich nichts Sinnvolles mehr einfiel, was ich mit dem vielen Geld noch finanzieren konnte, besaß ich immer noch mehr, als ich jemals hätte ausgeben können. Es war eine groteske Situation, ein entsetzliches Übermaß an Reichtum, bis zum letzten Penny erworben durch Blut. Hätte ich meine Pläne nicht so plötzlich geändert, würde ich das Geld wahrschein-lieh einfach irgendwie vergeudet haben, bis nichts mehr übrig gewesen wäre. Aber eines kalten Abends Anfang November setzte ich mir in den Kopf, selbst auf Reisen zu gehen, und ohne die nötigen Mittel dazu hätte ich ein so spontanes Vorhaben niemals verwirklichen können. Bis dahin war mir das Geld nur eine quälende Last gewesen. Jetzt betrachtete ich es als Heilmittel, als Medizin, mit der ich meinen endgültigen Zusammenbruch abwenden konnte. In Hotels zu leben, in
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