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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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jetzt einfach nicht langsamer werden, und wenn das Problem nicht anders als pharmakologisch zu lösen war, würde ich eben so viele Beruhigungspillen schlucken, wie dazu nötig wären. Eine Frau vom American Film Institute nannte mir den Namen eines Arztes. Ich nahm an, der Besuch in seiner Praxis würde nicht mehr als fünf oder zehn Minuten in Anspruch nehmen. Ich wollte ihm sagen, weshalb ich die Pillen brauchte, er würde mir ein Rezept ausstellen und fertig. Flugangst war schließlich ein verbreitetes Leiden, und ich hätte es gar nicht nötig, von Helen und meinen Söhnen zu erzählen oder ihm sonst wie mein Herz auszuschütten. Ich wollte mein Zentralnervensystem ja nur für ein paar Stunden ausschalten, und da man das Zeug nicht freikaufen konnte, bestand seine Aufgabe allein darin, mir ein Stück Papier mit seiner Unterschrift in die Hand zu drücken. Dr. Singh erwies sich jedoch als gewissenhafter Mann, und während er meinen Blutdruck maß und mir das Herz abhorchte, stellte er mir so viele Fragen, dass ich eine Dreiviertelstunde in seiner Praxis verbrachte. Er war zu klug, nicht gründlich nachzuforschen, und so kam nach und nach die Wahrheit ans Licht.
    Wir alle sterben einmal, Mr. Zimmer, sagte er. Wie kommen Sie darauf, dass Sie in einem Flugzeug sterben werden? Wenn man den Statistiken glauben darf, besteht eine viel größere Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu Hause im Sessel sterben werden.
    Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst vor dem Sterben habe, antwortete ich, ich habe gesagt, dass ich Angst habe, in ein Flugzeug zu steigen. Das ist ein Unterschied.
    Aber wenn das Flugzeug nicht abstürzt - warum sollten Sie sich Sorgen machen?
    Weil ich mir selbst nicht mehr traue. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren, und ich möchte nicht unangenehm auffallen.
    Ich kann Ihnen nicht recht folgen.
    Ich stelle mir vor, wenn ich in ein Flugzeug steige, würde ich schon durchdrehen, bevor ich meinen Sitz erreicht habe.
    Durchdrehen? Wie meinen Sie das? Geistig durchdrehen?
    Ja, ich breche vor vierhundert Fremden zusammen und verliere den Verstand. Ich laufe Amok.
    Und wie sieht das in Ihrer Vorstellung aus?
    Kommt drauf an. Manchmal schreie ich. Manchmal schlage ich irgendwem ins Gesicht. Manchmal renne ich ins Cockpit und versuche, den Piloten zu erwürgen.
    Hält Sie jemand auf?
    Ja, natürlich. Die Leute stürzen sich auf mich und werfen mich zu Boden. Sie schlagen mich zusammen.
    Wann hatten Sie das letzte Mal eine Schlägerei, Mr. Zimmer?
    Das weiß ich nicht mehr. Als kleiner Junge, nehme ich an. So mit elf, zwölf. Auf dem Schulhof. Als ich mich gegen einen Schläger gewehrt habe.
    Und was bringt Sie auf die Idee, dass Sie jetzt wieder anfangen könnten, sich zu schlagen?
    Gar nichts. Ich spüre es einfach in den Knochen, das ist alles. Ich glaube, wenn mir irgendetwas auf die Nerven geht, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Da könnte alles Mögliche passieren.
    Aber warum gerade Flugzeuge? Warum haben Sie keine Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn Sie auf festem Boden stehen?
    Weil Flugzeuge sicher sind. Das weiß jeder. Flugzeuge sind sicher, schnell und effizient, und wenn man erst mal oben ist, kann einem nichts mehr passieren. Darum habe ich Angst. Nicht weil ich denke, ich könnte getötet werden - sondern weil ich weiß, dass ich nicht getötet werde.
    Haben Sie jemals einen Selbstmordversuch unternommen, Mr. Zimmer?
    Nein.
    Haben Sie schon einmal daran gedacht?
    Selbstverständlich. Ich wäre kein Mensch, wenn ich nie daran gedacht hätte.
    Sind Sie deswegen gekommen? Um sich ein Rezept für ein schön starkes Medikament zu holen und sich dann umzubringen?
    Ich suche Vergessen, Doktor, nicht den Tod. Das Medikament wird mich schlafen lassen, und solange ich nicht bei Bewusstsein bin, brauche ich nicht darüber nachzudenken, was ich tue. Ich werde da sein, aber nicht ganz, und in dem Ausmaß, in dem ich nicht da bin, werde ich mich sicher fühlen.
    Sicher vor was?
    Vor mir selbst. Vor der schrecklichen Gewissheit, dass mir nichts geschehen wird.
    Sie erwarten, einen reibungslosen, ruhigen Flug zu haben. Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihnen das Angstmachen sollte.
    Weil meine Chancen so gut stehen. Ich werde sicher starten und landen, und wenn ich mein Reiseziel erreicht habe, werde ich lebendig aus dem Flugzeug steigen. Schön für mich, sagen Sie, aber indem ich das tue, spucke ich auf alles, woran ich glaube. Ich beleidige die Toten, Doktor. Ich mache aus einer Tragödie einen
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