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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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angefangen, dann in einigen Filmen Nebenrollen gespielt und schließlich von einem gewissen Seymour Hunt die Chance bekommen, als Regisseur und Hauptdarsteller eigene Filme zu machen. Hunt, ein Bankier aus Cincinnati, der ins Filmgeschäft einsteigen wollte, war Anfang 1927 nach Kalifornien gekommen und hatte dort seine Produktionsfirma Kaleidoscope Pictures gegründet. Allem Anschein nach ein stürmischer, intriganter Charakter, wusste Hunt so gut wie nichts vom Filmemachen und gar noch weniger vom Geschäftemachen. (Kaleidoscope wurde nach nur anderthalb Jahren wieder aufgelöst. Hunt, wegen Aktienschwindels und Unterschlagung angeklagt, erhängte sich noch vor Prozessbeginn.) Finanziell und personell schlecht ausgestattet, geplagt von Hunt, der sich ständig einmischen wollte, ergriff Hector dennoch die Gelegenheit und versuchte, das Beste daraus zu machen. Selbstverständlich gab es weder Drehbücher noch irgendwelche vorher angefertigten Kulissen. Nur Hector und ein Gespann von Gagschreibern, Andrew Murphy und Jules Blaustein, die während der Arbeit improvisierten; gedreht wurde häufig nachts, an gemieteten Sets, mit erschöpftem Personal und altersschwacher Ausrüstung. Es war nicht drin, ein Dutzend Autos zu Schrott zu fahren oder eine Rinderstampede zu inszenieren. Sie konnten weder Häuser einstürzen noch Gebäude explodieren lassen. Überschwemmungen, Hurrikane, exotische Schauplätze waren ausgeschlossen. Extras waren unerschwinglich, und wenn etwas nicht funktionierte, konnten sie sich nicht den Luxus leisten, die Szene noch einmal neu zu drehen. Alles musste nach einem engen Zeitplan erledigt werden, Zeit zum Überlegen gab es nicht. Gags auf Kommando, drei Lacher pro Minute, dann die nächste Münze in den Schlitz. Trotz all dieser Nachteile schien Hector von den Beschränkungen, die ihm auferlegt waren, geradezu beflügelt. Die Bandbreite seiner Arbeit war bescheiden, und doch hatte sie etwas Anheimelndes, das den Betrachter fesselte und ihn zwang, darauf zu reagieren. Ich begriff, warum Filmexperten seine Arbeit schätzten - und auch, warum niemand völlig begeistert davon war. Er hatte keinerlei Neuland erschlossen, und nachdem jetzt alle seine Filme wieder zugänglich waren, stand fest, dass die Geschichte jener Zeit nicht würde neu geschrieben werden müssen. Hectors Filme waren gewiss nur kleine Beiträge zur Kunst des Kinos, klein, aber nicht unbedeutend, und je öfter ich sie sah, desto mehr Gefallen fand ich an ihrer Anmut, an ihrem subtilem Witz, an der komischen und liebenswerten Art ihres Stars. Wie ich bald erfuhr, hatte noch niemand alle seine Filme gesehen. Die letzten waren erst vor allzu kurzer Zeit aufgetaucht, und bis dahin hatte es nicht ein einziger Mensch auf sich genommen, die auf der ganzen Welt verstreuten Archive und Museen vollständig abzuklappern. Wenn es mir gelang, meinen Plan durchzuführen, wäre ich der Erste.
    Vor der Abreise aus Rochester rief ich Smits an, meinen Dekan in Hampton, und teilte ihm mit, dass ich meinen Urlaub auf das folgende Semester auszudehnen gedächte. Zunächst reagierte er ein wenig ungehalten und behauptete, meine Vorlesungen seien bereits im Verzeichnis angekündigt, aber als ich ihm die Lüge auftischte, ich müsse mich psychiatrischer Behandlung unterziehen, bat er um Entschuldigung. Das war gewiss ein unfeiner Trick, aber zu der Zeit kämpfte ich um mein Leben und hatte einfach nicht die Kraft, ihm zu erklären, warum das Betrachten von Stummfilmen plötzlich so wichtig für mich geworden war. Am Ende unterhielten wir uns noch ziemlich freundlich, und er wünschte mir alles Gute; wir taten zwar beide so, als würde ich im Herbst wieder anfangen, aber ich denke, er hat gespürt, dass ich schon auf dem Rückzug war, nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache.
    Skandal und Wochenende auf dem Lande sah ich in New York, dann fuhr ich nach Washington und sah mir Der Kassierer und Doppelt oder nichts an. Die Stationen der weiteren Reise buchte ich bei einer Reiseagentur am Dupont Circle (mit Amtrak nach Kalifornien, mit der QE 2 nach Europa), nur um am nächsten Morgen in einem jähen Anfall blindwütigen Heldentums die Fahrkarten wieder zu stornieren und dafür Flugtickets zu nehmen. Das war reine Torheit, aber da sich die Sache jetzt so verheißungsvoll angelassen hatte, wollte ich nicht den Schwung verlieren. Unwichtig, dass ich mich sehr dazu überreden musste, genau das zu tun, was niemals mehr zu tun ich mir geschworen hatte. Ich konnte
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