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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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mit mir los war, habe ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Mehrere Monate lang ertränkte ich Trauer und Selbstmitleid in Alkohol, ging nur selten aus dem Haus, machte mir kaum die Mühe, etwas zu essen, mich zu rasieren oder die Kleider zu wechseln. Die meisten meiner Kollegen waren bis Mitte August in Urlaub; auf diese Weise blieben mir immerhin viele Besuche und die quälenden Formalitäten gemeinsamer Trauer erspart. Natürlich meinten sie es nur gut, und wann immer Freunde von mir vorbeikamen, bat ich sie ins Haus, auch wenn ihre Tränen und Umarmungen und ihr langes bedrücktes Schweigen mich nicht trösten konnten. Es war besser, allein zu sein, fand ich, besser, die Tage einsam in der Finsternis meines Schädels auszuweiden. Wenn ich nicht betrunken war oder im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf dem Sofa lag, streifte ich im Haus umher. Ich ging ins Zimmer meiner Söhne, setzte mich auf den Fußboden und umgab mich mit ihren Spielsachen. Ich war nicht fähig, unmittelbar an sie zu denken oder sie mir irgendwie bewusst vors innere Auge zu rufen, aber wenn ich ihre Puzzles zusammensetzte, wenn ich ihre Legosteine nahm und immer kompliziertere und verschrobenere Bauwerke konstruierte, hatte ich das Gefühl, vorübergehend wieder in ihre Haut zu schlüpfen - ihr junges Geisterleben für sie fortzuführen, indem ich die Gesten wiederholte, die sie gemacht hatten, als sie selbst noch in ihren Körpern steckten. Ich las Todds Märchenbücher und ordnete seine Baseballkarten. Ich sortierte Marcos Stofftiere nach Spezies, Farbe und Größe, bei jedem Besuch in seinem Zimmer nach einem anderen System. Auf diese Weise verschwanden viele Stunden, schmolzen ganze Tage dahin, und wenn ich es nicht mehr aushielt, ging ich ins Wohnzimmer und holte mir den nächsten Drink. Die seltenen Nächte, in denen ich nicht auf dem Sofa wegdämmerte, verbrachte ich gewöhnlich in Todds Bett. In meinem eigenen Bett befiel mich nur immer der Traum, Helen läge neben mir, und jedes Mal wenn ich die Hand nach ihr ausstreckte, fuhr ich mit einem heftigen Ruck aus dem Schlaf, meine Hände zitterten, meine Lungen rangen nach Luft, als sei ich gerade noch dem Tod durch Ertrinken entronnen. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte ich unser Schlafzimmer nicht betreten, aber tagsüber war ich oft und lange dort, stand vor Helens Kleiderschrank, berührte ihre Sachen, hängte mir ihre Jacken und Pullover um, nahm ihre Kleider von den Bügeln und breitete sie auf dem Boden aus. Einmal zog ich eins davon an, ein andermal stieg ich in ihre Unterwäsche und schminkte mir mit ihrem Make-up das Gesicht. Das war eine zutiefst befriedigende Erfahrung, aber nach einigen weiteren Experimenten fand ich heraus, dass Parfüm eine noch stärkere Wirkung entfaltete als Lippenstift und Wimperntusche. Es schien sie lebendiger zurückzuholen, ihre Gegenwart für längere Zeiträume heraufzubeschwören. Wie es der Zufall wollte, hatte ich ihr zum Geburtstag im März eine neue Flasche Chanel No. 5 geschenkt. Ich beschränkte mich auf täglich zwei kleine Spritzer und konnte den Vorrat so bis Ende des Sommers strecken.
    Für das Herbstsemester ließ ich mich beurlauben, doch statt zu verreisen oder Hilfe bei einem Psychologen zu suchen, blieb ich weiter im Haus und versackte. Ende September oder Anfang Oktober war ich so weit, dass ich jeden Abend mehr als eine halbe Flasche Whiskey trank. Das hielt mich davon ab, allzu viel zu empfinden, nahm mir aber gleichzeitig jeden Gedanken an die Zukunft, und ein Mensch, der nichts mehr hat, auf das er sich freuen kann, kann ebenso gut auch tot sein. Mehr als einmal ertappte ich mich bei weitschweifigen Tagträumen von Schlaftabletten und Kohlenmonoxidvergiftung. Ich bin zwar nie so weit gegangen, tatsächlich etwas zu unternehmen, aber wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, muss ich schon damals begriffen haben, wie wenig noch dazu fehlte. Die Tabletten waren im Arzneischrank, und ich hatte die Flasche schon drei- oder viermal herausgenommen, hatte mir die Tabletten schon in die Hand geschüttet. Und wenn dieser Zustand noch länger angehalten hätte, dürfte ich wohl kaum die Kraft aufgebracht haben, weiter Widerstand zu leisten. So standen die Dinge für mich, als plötzlich Hector Mann in mein Leben trat. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, war noch niemals auch nur über seinen Namen gestolpert, aber eines Abends kurz vor Winteranfang, als die Bäume längst alle Blätter verloren hatten und der erste Schnee zu fallen
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