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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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Stunden brauchen würde, nahmen wir an, dass sie um sechs wieder in ihrem Haus wäre. Als sie dann nicht anrief, begann meine Phantasie sofort die Lücken auszufüllen, und als ich mich um eins aufs Sofa legte, war ich davon überzeugt, dass Alma es nicht nach Hause geschafft hatte, dass ihr irgendetwas Furchtbares zugestoßen war.
    Wie sich herausstellte, lag ich damit falsch und richtig zugleich. Falsch damit, dass sie es nicht nach Hause geschafft hatte, aber richtig, was alles andere betraf - wenn auch ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kurz nach sechs kam Alma zurück. Sie schloss nie die Haustür ab und war daher nicht sonderlich beunruhigt, als sie feststellte, dass die Tür offen stand; aber aus dem Kamin stieg Rauch auf, und das kam ihr höchst ungewöhnlich vor, vollkommen unverständlich. Es war ein heißer Tag mitten im Juli, und selbst wenn Juan und Conchita gekommen wären, um ihr frische Wäsche zu bringen oder den Müll abzuholen - warum nur hatten sie Feuer im Kamin gemacht? Alma ließ die Lebensmittel im Kofferraum und ging sofort ins Haus. Vor dem Kamin im Wohnzimmer hockte Frieda, knüllte Papier zusammen und warf es ins Feuer. Jede einzelne Bewegung war eine exakte Wiederholung der Schlussszene von Martin Frost, in der Norbert Steinhaus in dem verzweifelten Versuch, Almas Mutter wieder zum Leben zu erwecken, das Manuskript seiner Erzählung verbrennt. Ascheflocken schwebten im Zimmer umher, taumelten um Frieda wie verwundete schwarze Schmetterlinge. Ihre Flügel glühten an den Rändern rot auf und erloschen zu weißlichem Grau. Hectors Witwe war so in ihr Tun vertieft, so entschlossen, die angefangene Arbeit zu Ende zu bringen, dass sie nicht einmal aufblickte, als Alma zur Tür hereinkam. Die noch nicht verbrannten Blätter lagen auf ihren Knien, ein kleiner Stapel Din-A-4-Bögen, vielleicht noch zwanzig oder dreißig, höchstens vierzig Seiten. Mehr war nicht übrig, die anderen sechshundert waren bereits weg.
    Nach ihren eigenen Worten bekam Alma einen Tobsuchtsanfall, schimpfte und fluchte, schrie und kreischte wie eine Wahnsinnige. Sie stürzte auf Frieda zu, und als diese aufstand, um sich zu verteidigen, stieß Alma sie zur Seite. An mehr könne sie sich nicht erinnern, sagte sie. Ein heftiger Stoß, und schon war sie an Frieda vorbei und rannte zu ihrem Arbeitszimmer, zu ihrem Computer hinten im Haus. Das verbrannte Manuskript war nur ein Ausdruck. Das Buch war im Computer, und falls Frieda sich nicht an der Festplatte zu schaffen gemacht und die Sicherungsdisketten gefunden hatte, wäre nichts verloren.
    Aufflackernde Hoffnung, ein kurzes Aufwallen von Optimismus, als sie die Schwelle ihres Zimmers überschritt. Und dann keine Hoffnung mehr. Beim Eintreten sah Alma als Erstes die leere Stelle, an der ihr Computer gestanden hatte. Der Schreibtisch war abgeräumt: kein Monitor, keine Tastatur, kein Drucker, keine blaue Plastikbox mit den einundzwanzig etikettierten Disketten und den dreiundfünfzig verschiedenen Recherchedateien mehr. Frieda hatte alles abtransportiert. Zweifellos hatte Juan ihr dabei geholfen, und wenn Alma die Situation richtig deutete, war es längst zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen. Der Computer wäre zertrümmert, die Disketten zerbrochen. Und selbst wenn das noch nicht geschehen wäre - wo sollte sie danach zu suchen anfangen? Die Ranch war hundertsechzig Hektar groß. Man brauchte sich nur irgendeine Stelle auszusuchen und ein Loch zu graben, und schon wäre das Buch für alle Zeiten verschwunden.
    Wie lange sie in ihrem Arbeitszimmer geblieben war, vermochte sie nicht zu sagen. Ein paar Minuten, nahm sie an, es könnte aber auch viel länger gewesen sein, vielleicht eine Viertelstunde. Sie wusste noch, dass sie sich an den Schreibtisch gesetzt und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Am liebsten hätte sie geweint, sagte sie, ihre Wut und Verzweiflung herausgebrüllt und Ströme von Tränen vergossen. Aber sie war so fassungslos, dass sie nicht weinen konnte, und so saß sie einfach nur da und hörte sich durch ihre Hände atmen. Irgendwann fiel ihr auf, dass es im Haus ganz still geworden war. Sie nahm an, dass Frieda sich verzogen hatte - dass sie einfach zum Haupthaus zurückgegangen war. Auch gut, dachte Alma. Kein noch so langer Streit, kein Erklärungsversuch konnte das Geschehene ungeschehen machen, und im Übrigen stand für sie fest, dass sie mit Frieda nie mehr ein Wort reden würde. Wirklich? Ja, entschied sie, ganz
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