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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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bestimmt. Und deshalb war es an der Zeit, dass sie endlich von dort verschwand. Sie konnte eine Tasche packen, ins Auto steigen und zu einem Motel in der Nähe des Flughafens fahren. Und am nächsten Morgen konnte sie das Flugzeug nach Boston nehmen.
    Alma stand vom Schreibtisch auf und ging aus dem Arbeitszimmer. Es war noch nicht sieben Uhr, aber sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich zu Hause wäre -dass ich in der Küche neben dem Telefon wartete und mir in Vorfreude auf ihren Anruf einen Tequila einschenkte. Sie wollte nicht bis zur vereinbarten Zeit warten. Man hatte ihr gerade etliche Jahre ihres Lebens gestohlen, die Welt explodierte in ihrem Kopf, und sie musste sofort mit mir reden, musste mit irgendjemandem zu reden anfangen, bevor die Tränen hervorbrachen und sie kein Wort mehr herausbringen konnte. Das Telefon stand im Schlafzimmer, gleich neben dem Arbeitszimmer. Wenn sie dort aus der Tür kam, brauchte sie sich nur nach rechts zu wenden, und zehn Sekunden später konnte sie auf ihrem Bett sitzen und meine Nummer wählen. Auf der Schwelle des Arbeitszimmers zögerte sie jedoch einen Augenblick und wandte sich dann nach links. Im Wohnzimmer waren überall Funken herumgeflogen, und ehe sie sich auf ein langes Gespräch mit mir einließ, musste sie sich vergewissern, dass das Feuer erloschen war. Das war vernünftig, es war unter diesen Umständen das einzig Richtige. Also machte sie den Umweg in die andere Hälfte des Hauses, und Sekunden später wurde die Geschichte dieses Abends zu einer ganz anderen Geschichte - der Abend selbst wurde zu einem anderen Abend. Das ist für mich das Entsetzliche: nicht nur, dass ich unfähig war, das Folgende zu verhindern, sondern auch das Bewusstsein, dass es, wenn Alma zuerst mich angerufen hätte, wahrscheinlich gar nicht geschehen wäre. Frieda läge zwar immer noch tot im Wohnzimmer, aber Alma hätte ganz anders darauf reagiert, und nichts von dem, was auf die Entdeckung der Leiche folgte, wäre so geschehen, wie es dann geschehen ist. Nach einem Gespräch mit mir wäre sie etwas stärker gewesen, etwas weniger fassungslos, etwas besser darauf vorbereitet, den Schock zu verdauen. Wenn sie mir zum Beispiel von dem Schubser erzählt hätte, mir beschrieben hätte, wie sie Frieda mit der flachen Hand vor die Brust gestoßen hatte, bevor sie an ihr vorbei zum Arbeitszimmer gerannt war, dann wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, sie vor den möglichen Konsequenzen zu warnen. Menschen verlieren das Gleichgewicht, hätte ich womöglich zu ihr gesagt, sie stolpern rückwärts, sie stürzen, sie schlagen mit dem Kopf an harte Gegenstände. Geh ins Wohnzimmer und sieh nach. Finde heraus, ob Frieda noch da ist. Und Alma wäre ins Wohnzimmer gegangen, ohne den Hörer aufzulegen. Ich hätte unmittelbar nachdem sie die Leiche entdeckt hätte, mit ihr reden können, und das hätte sie beruhigt, das hätte ihr eine Chance gegeben, klarer zu denken, noch einmal mit sich zurate zu gehen, statt das Schreckliche zu tun, das ihr nun in den Sinn kam. Aber Alma zögerte in der Tür, wandte sich nach links und nicht nach rechts, und als sie Friedas Leiche zusammengekrümmt auf dem Fußboden sah, vergaß sie, mich anzurufen. Nein, ich glaube nicht, dass sie es vergessen hat; das will ich nicht unterstellen - aber die Idee nahm in ihrem Kopf bereits Gestalt an, und sie konnte sich einfach nicht mehr überwinden, jetzt noch den Hörer abzunehmen. Stattdessen ging sie in die Küche, nahm eine Flasche Tequila und einen Kugelschreiber, setzte sich hin und verbrachte den Rest der Nacht damit, mir einen Brief zu schreiben.
    Ich schlief auf dem Sofa, als das Fax kam. Sechs Uhr morgens in Vermont, aber noch vier Uhr nachts in New Mexico, und das Gerät weckte mich mit dem dritten oder vierten Klingeln. Ich war weniger als eine Stunde weg gewesen, in ein Koma der Erschöpfung gesunken, und die ersten Klingeltöne drangen nicht zu mir durch, beeinflussten nur den Traum, den ich gerade hatte - einen Albtraum, in dem es um Wecker und Termine ging und ich rechtzeitig aufwachen musste, um einen Vortrag zum Thema «Die Metaphern der Liebe» zu halten. Ich erinnere mich nur selten an meine Träume, aber an diesen erinnere ich mich so genau wie an alles andere, was mir geschah, nachdem ich die Augen aufschlug. Ich setzte mich auf, begriff endlich, dass der Lärm nicht von meinem Wecker im Schlafzimmer kam. Es war das Telefon in der Küche, doch bis ich aufgestanden und durchs Wohnzimmer
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