Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
bei Rechtsstreitigkeiten meistens so. Aber wie lautet die Anklage?«
    »Es gibt gar keine.«
    Mukhopadhyaya stutzte. »Nun, was ist die Anschuldigung? Wegen irgendwas müssen Sie ja hier sein.«
    »Das Letzte, was ich gehört habe, war Ehrabschneidung, Verunglimpfung eines Verstorbenen und üble Nachrede.« Gowers genoss ein wenig den unsicheren Blick, den ihm sein Anwalt zwischen der Aktenmappe und dem linken Knie hindurch zuwarf. »Und Erpressung«, fügte er dann hinzu.
    »Ah!« Mukhopadhyayas Miene hellte sich auf, als sei die Sonne durch die Wolken gebrochen, und sein Bleistift fuhr jetzt beinahe fröhlich übers Papier. »Jetzt kommen wir zur Sache.«
    »Könnten Sie mir etwas zu rauchen besorgen?«, fragte John Gowers.
     

6.
     
    Durch einen sonderbaren Irrtum der Vorsehung war Indien voller Inder. Glücklicherweise hatte man die Armee, um sie bei Bedarf totzuschießen. Denn das Land an sich hatte viele Vorzüge, wenn auch nicht unbedingt im Sommer. Im Sommer schwitzte Lady Wedderburn trotz zwei- oder dreimaligen Badens täglich ihr Korsett, mehrere Unterkleider und bis zu vier Paar ihrer seidenen, schenkellangen Strümpfe durch. Der Sommer war nichts für die Engländer. Oder die Engländer waren nichts für den Sommer in diesem Land, das zweieinhalb Jahrhunderte Tatkraft und Unternehmungsgeist ihnen eingebracht hatten. Es war ihnen ja nicht in den Schoß gefallen.
    Indien war ein herrliches Land. Gewürze, Seide, Opium, Indigo, Zuckerrohr, Salpeter und immer wieder Baumwolle, alle Arten von Stoffen. Es war wie geschaffen für Kaufleute, mithin geschaffen für Engländer. In seinen köstlichsten Teilen geschaffen von Engländern. Da gab es die – zumindest in der milden Jahreszeit – herrlichen Parkanlagen der englischen Viertel, der weitläufigen Clubs. Palastartige Anwesen, in denen man drei bis vier englische Landhäuser bequem hätte verstecken können. Wohnräume, groß wie Londoner Ballsäle, und Betten, die eigentlich seidene Landschaften waren. Nein, das Land hatte unbestreitbare Vorzüge. Aber auch schrecklich viele Inder.
    Sie meinte natürlich nicht ihre zweiundsiebzig Bediensteten. Diener gab es überall, musste es überall geben und gerade in diesem Klima. Irgendjemand musste schließlich die Pankas und die riesigen Thermantidoten bedienen, die die Luft kühlten und in Bewegung brachten, damit Menschen sie atmen konnten. Auch die Existenz einer arbeitenden Klasse leuchtete Lady Wedderburn unter ökonomischen Gesichtspunkten durchaus ein. Aber die Übrigen? Das braune Gewimmel, das sich vor ihrer Kutsche knäuelte und schob, ihren Weg versperrte bei jeder Fahrt in der Stadt. Aufdringliches Geschrei, sinnloses Hin-und-her-Rennen unsäglich schmutziger Füße, splitternackte alte Männer, Digambaras , die der Kutsche nicht einmal auswichen, schwatzende Weiber mit tätowierter Stirn, Kinder, die umherhuschten wie Eidechsen, und die Wolken von Staub und Gestank, die all diese Kreaturen aufwirbelten.
    Warum nur hatte Gott diese erschreckende Menge von Indern geschaffen? Die sich zudem seit Jahrhunderten uneins darüber waren, ob sie ihn nun auf hinduistische oder muslimische Weise verehren sollten? Die in dieser Frage immer wieder blutig übereinander herfielen? War es eine bloße Herausforderung englischen Ingenieurgeistes in gesellschaftlicher Hinsicht? Brauchte man sie als notwendige Objekte der Beherrschung? Dazu hätte die Hälfte der Leute schon mehr als gereicht. Nein, es musste eine Art Prüfung sein, zu diesem Schluss war Lady Wedderburn nach reiflicher Überlegung und sieben Jahren auf dem Subkontinent gelangt. Es war die ständige Prüfung der moralischen Überlegenheit der britischen Kultur. Nur darum ließ man all diese Inder am Leben, so schwer es auch manchmal fiel.
    Wie immer auf dem Weg durch die Vorstädte drang die Schwere der Prüfung besonders schneidend in ihr Gemüt, ihre Augen und ihre Nase. Denn Inder – sie hatte es oft nach Hause schreiben wollen, aber keine schreibbaren Worte gefunden –, denn Inder – Männlein und Weiblein, vom verschmiertesten Kleinkind über hübsche junge Mädchen, Männer, Matronen bis hin zu wohlbebarteten Greisen –, Inder – unbelastet von der selbstverständlichen Beschämung durch die eigenen kreatürlichen Bedürfnisse, die den vielleicht härtesten Kern der westlichen Zivilisation ausmachte –, Inder kackten überall hin!
    »Der Vollmond geht auf!«, hatte Reggie schon damals scherzhaft gesagt, als er seine nicht mehr ganz
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher