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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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Blut als alle Briten, Moguln, Muslime, in Schlachten, die vor der Zeit geschlagen wurden, als Vyasha jung war und die Welt nur ein Traum. Die Frauen nahmen den Ruf auf.
    »OUDH!«
    Wie Krieger grüßten sie das versunkene Königreich und streckten ihre nackten Arme in den Himmel, als wollten sie den Rauch festhalten. Aber ein Wind kam auf, wühlte in den Flammen, spielte mit dem Rauch, blies Asche in ihre Gesichter und griff heiß unter ihre Gewänder, bis sie sich abwandten und flohen.
    Agni lachte. Und der Wind aus der Wüste Tharr trieb den letzten Erben von Oudh und Delhi wie grauen Staub um die Stümpfe der geschlachteten Bäume, aus denen noch immer Saft austrat. Der rote Ashoka, unter dem der Buddha geboren wurde, war Kama Devas Gewächs, eine Frucht der Liebe. Seine Blüten galten als Heilmittel gegen jeden Kummer und alle Arten von Traurigkeit. Aber die blutenden Stümpfe der Bäume im letzten Garten des Roten Forts von Delhi waren ein Zeichen, dass hier eine Trauer wohnte, die nie mehr geheilt, die nur noch gerächt werden konnte.
     

5.
     
    »Gowers, John Gowers, John Gowers!«
    Eine seltsam hohe, näselnde Stimme wiederholte seinen Namen so eintönig, als sei er ein Mantra . Vor dem Gitter trabten dabei zwei stelzenartige Beine in staubigen Schuhen und einer speckig glänzenden Hose auf und ab. Gowers hatte auf einem Jahrmarkt auf Coney Island mal vor einem drei Meter großen Uncle Sam gestanden, an den er sich in seiner Froschperspektive nun erinnert fühlte. Er trat an das Gitter und schützte gleichzeitig seine Augen vor der gleißenden Helle des Gefängnishofs, indem er eine kleine Brille mit runden blauen Gläsern aufsetzte.
    »Ja?«
    Der Inhaber der monotonen Stimme und der Stelzenbeine, ein schlotterdürrer dunkelhäutiger Inder von höchstens fünfundzwanzig Jahren, beugte sich zu Gowers hinunter, indem er eine Hand auf ein Knie stützte.
    »Sie sind John Gowers, Amerikaner?«
    »Ja. Und wer sind Sie?«
    Statt einer Antwort fiel ein schlaffes, schäbiges Gaddi , ein mit Troddeln verziertes Kissen, auf den Boden und wirbelte eine kleine Staubwolke auf, die Gowers mitten ins Gesicht bekam. Als er wieder aufschaute, hatte der junge Mann bereits Platz genommen, saß im Schneidersitz vor dem Gitter und streckte ihm zwischen den beängstigend spitz aufragenden Knien seine schmale, dunkle Hand entgegen.
    »Mein Name ist Masjid Jawaharlal Mukhopadhyaya. Ich bin Rechtsanwalt.«
    »Sehr erfreut!« Gowers schüttelte die ihm angebotene Hand und konnte dabei nicht umhin, sich diesen Namen perspektivisch vorzustellen. Dann erst kam er endlich zu der Frage, die ihm seit fünf Tagen auf den Lippen brannte: »Haben Sie zufällig was zu rauchen?«
    »Bedaure«, sagte Mukhopadhyaya, ohne eine Miene zu verziehen, und nahm Bleistift und Papier aus seiner abgegriffenen Aktenmappe. »Lassen Sie uns zur Sache kommen!«
    An seiner ganzen Haltung, vor allem an der gelassenen Routine, mit der er vor ihm, über ihm im Staub saß, erkannte Gowers, dass der junge Mann nicht zum ersten Mal vor diesem Gitter mit einem Mandanten verhandelte.
    »Wer hat Sie hergeschickt?«, fragte der Gefangene misstrauisch.
    »Niemand«, antwortete Mukhopadhyaya völlig ruhig und schüttelte nur ein wenig verständnislos den Kopf, als er fortfuhr: »Ein Wachsoldat, der für diese Information offenbar noch ein Trinkgeld erwartet, sagte mir, dass ein Amerikaner hier ist. Ich habe in Amerika studiert, müssen Sie wissen, und das hat sich inzwischen herumgesprochen.« Er sagte das mit allem Stolz eines Mannes, der ansonsten wenig mehr aufzuweisen hat, und das überzeugte Gowers endgültig davon, dass weder Lady Wedderburn noch Colonel Outram je mit dem Anwalt zu tun hatten, der sich in diesem Augenblick wie verlegen am Ohr kratzte.
    »Zunächst wäre die Honorarfrage zu klären, Mr. Gowers …«
    Der Junge hat wirklich in Amerika studiert, stellte Gowers mit einem heimelig berührten Lächeln fest, das ihm seit Van Helmonts Tod fast abhandengekommen war.
    »Wenn Sie mich hier herausholen, Mr. Mukho…«
    »…padhyaya!«
    »… bekommen Sie das Honorar, das man mir schuldet.«
    Der Anwalt streckte seinen Storchenhals aus dem zu weiten Kragen und kratzte sich nun wirklich, seufzte, als hätte er Vergleichbares schon öfter gehört, als ihm lieb war. »Zahlung im Erfolgsfall«, murmelte er dann schicksalsergeben und schrieb diese Worte als erste auf seine Akte. »Und worum handelt es sich?«
    »Darüber gibt es verschiedene Meinungen.«
    »Das ist
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