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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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Gefangenen mit lauwarmem Reis- und Hirsebrei füllten. Hier waren auch nachts die besten Schlafplätze, es sei denn, die Kinder der im Gefängnis lebenden Aufseher machten sich einen Spaß daraus, aus ihrer ungewohnt erhabenen Stellung auf die schlafenden Gefangenen zu pissen.
    Tagsüber saßen draußen vor diesem Gitter die Besucher, die Angehörigen der eingesperrten armen Teufel, mitunter ganze Familienverbände, die sie mit Trost, Wasser und halbwegs frischen Lebensmitteln versorgten. Wie von dem weltumspannenden System, das britische Ökonomen zur Perfektion gebracht hatten, nicht anders zu erwarten war, nutzten die Menschen sogar noch diese Gegebenheiten, um Geschäfte mit den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen zu machen. Dabei wäre vielleicht eine kleine Säge zu erstehen, und die Gitterstäbe sahen alles andere als stabil aus. Durch eine neuerliche Bestechung der Aufseher konnte er vielleicht auch in der Verkleidung eines Abtrittentleerers die entscheidenden Türen passieren.
    Für beide Möglichkeiten brauchte er jedoch innerhalb des großen Gefängnissaals einen Mitstreiter mit so viel natürlicher Autorität, dass er einen Fluchtalarm von Seiten der Insassen oder der Spitzel wenigstens so lange verhindern würde, bis Gowers über die Mauer und in den Ruinen des alten Delhi war. Er versuchte also, sich mit einem jungen Mann anzufreunden, der sauberer und intelligenter aussah als die Mehrheit der Gefangenen; der ihm in einem kurzen Gespräch aber lediglich zu verstehen gab, dass das Leben ohnehin nur ein Traum und daher nicht zu ändern sei: »Das ist die Maya, der Weltentrug, du, ich, alles. Handeln ist wie ein Rauch im Wind, ein roter Nebel vor der Sonne, der unser Denken verwirrt.«
    Mit seinem abgeklärtesten Lächeln zog Gowers sich zurück und hielt Ausschau nach einem gemeinen, schmutzigen Kerl, mit dem mehr anzufangen wäre. Er hatte sich den entsprechenden Mann bereits ausgeguckt, als am Morgen des sechsten Tages vor dem Gitter sein Name gerufen wurde.
     

4.
     
    Rote Ashokablüten bedeckten den kleinen Leichnam ihrer Hoffnungen, Mirza Innuzzar Baht, den Letzten ihres Geschlechts. Seine Schönheit, das bleiche Kindergesicht, von den Blüten umrahmt, schnitt in ihr Herz. Für einen Augenblick zerbrach ihre Stärke, und sie sackte an der schlecht geschnitzten Totenbahre zusammen, aber ihre Knie berührten den Boden nicht.
    Als die Frauen ihr beispringen wollten, hatte sie sich schon wieder in der Gewalt, seufzte ohne Tränen, küsste die kalten Lippen ihres Enkelsohns und zog dann das Leichentuch über sein Gesicht. Es war wie aus Wind gewebt, fein wie der Abendtau, Produkt einer dreitausendjährigen Tradition der Tuchherstellung. Der leiseste Atemhauch hätte es fortgeweht, aber der Junge atmete nicht mehr. Sie befestigte es im Nacken des Toten, der nun aussah wie eine Alabasterstatue, für deren Vollendung einer der alten Bildhauer nur noch wenige zarte Schläge gebraucht hätte.
    Sie trat langsam zurück, die Frauen nahmen die Bahre hoch und trugen den Erben des letzten Mogulkaisers hinaus, durch marmorne Hallen mit silbernen Decken. Die Blüten fielen wie helle Blutstropfen auf Mosaike aus Halbedelsteinen, von den leichten Tritten der Frauen und Mädchen der Zenana in Jahrhunderten nicht abgenutzt. Kein Geräusch, kein Klagelied begleitete die Prozession, außer dem leisen Plätschern der Springbrunnen, die ihre glitzernden weißen Wasserperlen versprühten.
    Durch Gänge mit goldenen Wänden, schimmernd im Fackellicht, ging es hinaus in den letzten lebenden Garten, tief verborgen im Roten Fort. Hierher war nie ein Feind gekommen, kein Engländer hatte diese Erde betreten. Dennoch waren die Ashokabäume nun abgeschlagen und ihr duftendes Holz zu dem Scheiterhaufen geschichtet, auf dem die Frauen die Bahre niederlegten.
    Die Fackeln verblassten im Licht des langsam heraufdämmernden Aprilmorgens, als sie zu Agni betete, dem Feuergott, Leben des Windes, Leib der Pflanzen, der die Welten erschafft und wieder zerstört. Dann legte sie selbst das Feuer unter den niedrigen Holzstoß. Öl und weißes Kashagras gaben den Flammen Nahrung, bis sie das Fleisch von ihrem Fleisch erreicht hatten und Agni ihre letzte und schönste Frucht verzehrte. Ihre Züge wurden hart und kalt, als der Rauch in den Himmel stieg, und tief in ihr schrie eine Stimme. Sie öffnete den Mund, etwas Wildes, Altes in ihren Augen, und seltsam dunkel klang es aus ihrer Kehle.
    »OUDH!«
    So hatten Könige vor ihr gerufen, von älterem
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