Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Sternzeichen, Witze, ungewöhnliche Reisen, Krankheiten, Autos und Motorräder, Krankenhäuser, Busse, bewaffnetes Eindringen, Verletzungen, hektische Fluchtbemühungen, Laufen und schmale Pfade, finale Verblüffung – ganz besonders, wenn er von den finalen Dingen spricht, vom Tod – dann wird es wahr sein. Vor allem wird er ihnen wahre Tode schenken.
    Seine Aufgabe ist es, das Fenster zu sein, das sie hindurchschauen lässt, die Tür, die sich öffnet, damit sie in die Zeiten und Orte zurückwandern können, die er wiedererstehen lässt. Und wenn er den Fragenden Welten erzählt, dann werden diese wie wahre Welten scheinen. Sie werden wahrer und besser sein als die Welt, die sie haben.
    Heute Abend haben 750 Fremde zugesehen, wie er überzeugend anderen Seelen gewährte, in sein blauweißes Selbst zu schlüpfen, und sie dann durch sich hat sprechen lassen. Wieder und wieder hat er liebe Menschen einander nähergebracht, hat sie eingeladen, hereingerufen. Das war sein kleines Geschenk für alle.
    Und er ist der Beste. Niemand ist wie er.
    Bin nicht sicher, ob irgendjemand so sein will.
    Und fast am Ende, müde und müde und müde, hat er den Kopf geschüttelt, als wollte er sich befreien, und die Schultern sinken lassen, hat geseufzt und die Wangen gerieben und gespürt, wie die Zuschauer ihren Willen gegen seinen stemmen, den breiten, warmen Druck derjenigen, die noch mehr wollen, die gut und gern hier bleiben – Reihe für Reihe – und ihn aufsaugen könnten. Doch das war’s, die Show ist vorbei: Ein Nicken, eine Handvoll Sätze, eine angemessen knappe und stille Verbeugung, dann wird er in die gesichtslose kleine Garderobe gehen, sein Gesicht waschen und da sitzen, sich zurücklehnen und sitzen.
    »Sie haben mich nicht mit Billy sprechen lassen. Als sie zuletzt hier waren, haben Sie mich mit ihm sprechen lassen.«
    Frau ganz vorn – natürlich ganz vorn und ganz in der Mitte – direkt vor seinen Füßen also, nur die Höhe der Bühne trennt sie. »Wieso wollte er nicht mit mir reden?« Sie hat ihren Platz verlassen, ist angespannt, fast auf Zehenspitzen.
    Rosa Pullover – Polokragen wegen der etwas alternden Haut, übertrieben glamouröser Schmuck, alles zu angestrengt – und sie schreit. Der Mann nimmt an, dass ihre seelische Verfassung nichts anderes zulässt als Schreien. Derlei ist dem Mann schon früher begegnet.
    »Wollte er nicht?«
    Das ganze Theater versteift sich, drängt sich um ihn, während er sich an seinen letzten Besuch hier erinnert – es war im Frühling – und daran, wie er diese Frau durch ihren toten Sohn glücklich gemacht hat. Diesmal ist sie drei Stunden lang – plus Pause – sorgsam gemieden worden. Zu verlangend, zu verlassen.
    Weiblich, 35–45, alleinstehend und kinderlos: schwierig, ihnen fehlen die üblichen Zugänge, sie bestehen nur aus Bedürfnissen, Mängeln, Sorgen und Hoffnungen in letzter Minute, sie leiden unter grausamen und gewagten Sprüngen ins Unmögliche. Also bietest du ihnen Träume.
    Weiblich, 35–45, geschieden nach Verlust des Kindes: leicht. Gib ihr den Jungen zurück.
    Aber nur, weil es leicht ist, muss ich es nicht auch tun.
    Der Saal wartet auf die richtige Behandlung, auf des Mannes maßgebliche Lösung.
    Wenn ich ihr jetzt helfe, kommt sie zu jeder meiner Sitzungen in der Stadt, sie wird anfangen, mich zu verfolgen.
    Der Mann kann sie schmecken; etwas Saures steigt von ihr auf, wie Krankheit und Panik – der Geschmack von Labilität und Besessenheit. Er begreift die Dinge immer zum Teil mit dem Mund, und im Augenblick schluckt er bitteres Metall und Erde, etwas Feuchtes und Stagnierendes, mit dunkler Erde vermischt. Da er aufmerksam gewesen ist, würde er sie in allen Einzelheiten kennen, wenn sie sich wieder begegneten.
    »Nein.« Eine Pause, während der Rest des Publikums sich fast entspannt, sich für weiteres Vertrauen bereitmacht. Er zieht Luft ein und lässt seine Hand zucken. »Beim letzten Mal, als ich hier war, hat Billy sich verabschiedet. Er hat gesagt, dass er Sie liebt.«
    Darüber weint sie – glücklichgierige Tränen – die gekrümmten Hände heben sich zu ihren Lippen.
    »Er hat Ihnen gesagt, was er nicht mehr sagen konnte, wozu er keine Gelegenheit mehr hatte. Das hat ihn zufrieden gemacht, lässt ihn in Frieden ruhen.«
    Niemand ist bei ihr, sie ist allein gekommen, sie verfolgt das hier ganz allein – ihre Arme fallen herab und flattern an ihren Seiten: Wäre jemand da, der sie halten könnte, so würde derjenige das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher