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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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verabschiedete, war bereits fertig.
    »Seht Ihr hier?«, sagte der Maler, den Blick des Propstes auf eine bestimmte Wandstelle lenkend, wo bereits ein provisorischer Gipsbelag aufgebracht worden war. Dieser Belag war jedoch sichtlich uneben und bedurfte der Glättung. »Hier kommt der Streit in der Synagoge hin, der Disput des Stephanus mit den Rabbinern. Hier, seht Ihr das? Dort, der Faltenwurf von Stephanus’ Robe.«
    Der Mönch wedelte mit der Pranke und vor seinem geistigen Auge erstand die schwarzrote, spitzengesäumte Robe des Heiligen, der auf seinem kahlen Schädel eine Kappe aus kostbarer Seide trug.
    »Hierhin kommen die Stufen der Synagoge.«
    Fra Filippo suchte die Wand ab, bis er eine Unebenheit in der ungefähren Größe eines Männerkopfes gefunden hatte. »Und hier kommt Ihr hin: in die Synagoge, einem heiligen Ort, der Eurer gehobenen Position würdig ist. Ich habe lange und gründlich darüber meditiert und gebetet, wollte aber natürlich nicht fortfahren, ohne Eure Zustimmung einzuholen.«
    »Ich? In den Freskos?« Dem kleinen Mann fiel fast die Kinnlade herunter.
    Es war nichts Ungewöhnliches, das Gesicht des Auftraggebers in ein Gemälde aufzunehmen. Aber dass nun auch er im Freskenzyklus erscheinen würde, überraschte Inghirami, da Fra Filippo diesen Auftrag von seinem Vorgänger erhalten hatte und nicht von ihm selbst.
    »Wenn es Euch ehrt, guter Propst«, sagte Fra Filippo mit einer zuvorkommenden Verbeugung. »Natürlich müsst Ihr die Fläche erst einmal auf Euch wirken, das Arrangement vor Eurem geistigen Auge erstehen lassen.« Der Mönch wedelte mit der Pranke in Richtung Wand. »Ihr werdet sicher erst einmal im Gebet darüber nachsinnen wollen. Selbstverständlich werde ich bis dahin mit der Arbeit warten.«
    Inghirami kniff die Augen zusammen und musterte das ausgeprägte Profil des Malers. Man nannte ihn Bruder Maler, ein ehrenvoller Titel. Die mächtigen Medici und alle, die sich in solchen Dingen auskannten, sangen sein Loblied. Man sagte, Fra Filippos Engel und Heilige seien lebendiger als die des großen Dominikanermönchs Fra Giovanni, seine Figuren gewichtiger als die des Piero della Francesca. Inghirami konnte keinen Unterschied erkennen, für ihn waren diese Maler alle gleich: alles Hungerleider, die sich an keine Ordnung hielten. Aber er vertraute darauf, was man in Florenz und Rom sagte.
    »Nun gut, so sei es«, meinte er gönnerhaft. »Ich werde mir Euren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen.«
    Der Mönch wandte sich ab und ließ Inghirami in andächtiger Kontemplation der Gipsfläche zurück. Seine Schultern zuckten in stummem Gelächter.
    Endlich allein in seiner Werkstatt, sank Fra Filippo auf einen Hocker und vergrub das Gesicht in den Händen. Er holte tief Luft und schwelgte in der Erinnerung an das schöne Gesicht der Novizin, an ihre tiefblauen Augen, die ihn so erschüttert hatten. Er sah ihre kühle Schönheit vor sich, den anmutigen Schwung ihrer Brauen, die schmale, gerade Nase, die dichten Wimpern, die sich scheu über zarte Wangen senkten.
    Der Mönch erkannte wahre Schönheit, wenn sie ihm begegnete, und sie war ihm im Antlitz von Lucrezia Buti entgegengetreten. Gott hatte seine Gebete erhört und ihm das schönste Gesicht gezeigt, das er je erblickt hatte. Ein Gesicht noch halb mädchenhaft-unschuldig, schon halb fraulich; ein Gesicht, das noch voll erblühen, in das sich die Spuren von Liebe, Glück, Sorgen und Trauer noch eingraben würden.
    Der Maler hob den Kopf und griff zu einem roten Kreidestift und einem Bogen Pergament. Nun begann er die schlichten Linien ihres Gesichts zu zeichnen: den Schwung ihrer Wange, das Kinn, welches dieses Gesicht perfekt im Raum zu verankern schien, den langen Hals.
    Fra Filippo war der Sohn eines Metzgers; er kannte die Form eines Schädels, die Spanne der Glieder und Extremitäten, die Länge der zarten Handknochen. Als Kind hatte er seinem Vater beim Schlachten und Zerlegen von Kälbern, Kühen, Lämmern und Schafen zugesehen. Er wusste, dass zuerst der Knochen kam, dann der Knorpel, die Muskeln, die Sehnen, die Adern, das Fleisch. Und er wusste, dass alles zusammen Leben ergab. Leben und Schönheit. Fra Filippo zeichnete Lucrezias Lippen, ihre Schultern, die Arme unter dem Habit. Er zeichnete ihre Rippen, das zarte Schlüsselbein und das Rückgrat, das sich in sanftem Schwung vom Nacken bis zum Po zog. Er sah jedes einzelne Glied, alle Muskeln und begriff, wie sie zusammengehörten, wie alles aus einem Zentrum, aus
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