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Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bedeutete nichts anderes als einen Genickschuß. Die sicherste Methode der Hinrichtung.
    Sie wischte sich mit der Hand über ihr Gesicht, schob die Zotteln zur Seite und sah Wechajew in die kalten, gnadenlosen Augen. Er würde sie auch in die Stirn schießen, das erkannte sie an seinem Blick.
    »Ich bin keine Deutsche«, sagte sie laut, aber ihre Stimme war tonlos vor Angst. »Ich bin eine Russin. Eine Genossin …«
    »Das trifft sich gut!« Wechajew verzog den Mund wie vor Ekel. »Ich bin der jüngste Bruder von Stalin. Nur glaubt er es nicht, so wenig wie ich dir glaube. Wenn wir schon lügen, dann glaubhaft. Umdrehen!«
    »Ich komme aus Puschkin, Genossen.«
    »In einer deutschen Uniform?! Soll man dich anspucken, du Verräterin?! Wir fahren nach Puschkin, und sie kommt von dort und vergräbt sich im Wald. Spionin! Ekelhafte Spionin!«
    »Einen Auftrag habe ich! Bringt mich zu eurem General. Schnell! In zwei Tagen hat der Deutsche Puschkin besetzt. Ihre Artillerie schießt schon in die Stadt. Alles kann ich erklären. Daß der Rotarmist –« sie zeigte auf Solotwin – »mich entdeckt hat, war nur ein Zufall. Ich muß zu eurem General!«
    »Was du mußt, bestimme ich!« Wechajews Stimme bekam jetzt einen metallischen Klang. »Umdrehen! Kein Wort weiter! Für mich ist ein Spion kein Mensch mehr –«
    General Witalij Bogdanowitsch Sinowjew hatte wieder mit Puschkin telefoniert. Der Major und Kunstexperte berichtete, daß die Deutschen bereits in die Stadt schossen, daß ihre Flugzeuge den Katharinen-Palast bombardiert und schwer beschädigt hätten und daß es völlig ausgeschlossen sei, jetzt noch das Bernsteinzimmer auszubauen und zu retten.
    »Wir werden heute noch Puschkin verlassen müssen«, sagte der Major gepreßt. Im Telefon hörte Sinowjew die Detonationen der deutschen Granaten. Von der Front hatte er keine Meldung bekommen, kopflos schien man dort zu sein. »Die Faschisten rücken unaufhaltsam vor. Eine SS-Division soll direkt auf Puschkin vorstoßen.«
    »Das weiß ich alles!« Sinowjew streifte mit einem Blick die Landkarte, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet war. Er hatte sich in einem kleinen Landschloß, das zur Zarenzeit einem reichen Bojaren gehört hatte, einem Fürsten Wladimir Nikolajewitsch Tschepikow, sein Hauptquartier eingerichtet und wußte, daß er das ganze Gebiet in spätestens drei Tagen räumen mußte. Der Stab packte bereits. General Popow, der mit schnell zusammengezogenen zwölf Divisionen die Stadt verteidigen sollte, erwartete ihn in Leningrad. Von Schukow kam die Nachricht, unverzüglich abzuziehen: Für die Verteidigung der Stadt brauchte man jetzt jeden Mann. Ein geordneter Rückzug – wie triumphal wäre er, wenn im Troß der Division auf zehn Lastwagen das Bernsteinzimmer nach Leningrad mitfuhr und so gerettet wurde. »Eine Kolonne ist unterwegs, Genosse Major.«
    »Zu spät, Genosse General.«
    »Es ist nie zu spät!« schrie Sinowjew. Fast wie ein Aufschrei klang es. »Und wenn wir Puschkin fünf Minuten vor dem Einmarsch der Deutschen verlassen!«
    »Wir schaffen es nicht. Ein fachgerechter Ausbau dauert mindestens drei oder vier Tage. Diese Zeit haben wir nicht mehr. In drei Stunden verlassen wir den Katharinen-Palast. Das Herz blutet mir, Genosse General, aber damit kann ich die Deutschen nicht aufhalten.«
    Sinowjew legte auf. Sein Adjutant Kowaljow kam ins Zimmer und meldete Besuch an.
    »Ein Mädchen«, sagte er und schüttelte dabei den Kopf. »Trägt einen deutschen Militärmantel und die Tracht einer Rote-Kreuz-Schwester. Wurde im Wald in einer Erdhöhle gefunden, spricht russisch und verlangt, den Genossen General zu sprechen.«
    »Eine Spionin, Igor Iwanowitsch?« General Sinowjew drückte das Kinn an seinen Uniformkragen. »Warum bringt man sie hierher? Wo ist sie?« – »Vor der Tür wartet sie.«
    »Erschießen!«
    »Sie will vorher Sie sprechen, Genosse General. Sie weiß, was sie erwartet. Aber –«
    »Lassen Sie sie eintreten, Igor Iwanowitsch.«
    Draußen im Wald, kurz bevor Unterleutnant Wechajew seine Pistole abdrücken wollte und der Schuß den Kopf des Mädchens zertrümmert hätte, war etwas Unerwartetes geschehen. Die Spionin sagte nämlich: »Ich komme vom Bernsteinzimmer«, und dieser kurze Satz veränderte die Situation vollkommen. Lew Semjonowitsch ließ die Pistole sinken, schluckte mehrmals, als habe sich seine Kehle verengt. Dann schielte er zu Solotwin und den anderen Rotarmisten, die einen Kreis um sie bildeten und auf die
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