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Das Beben

Titel: Das Beben
Autoren: Martin Mosebach
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in den Stoff hineinfuhren, hatte ich auch einen Schuhflicker bemerkt, der an der Straßenecke kauerte und seine Werkstatt unter freiem Himmel ausgebreitet hatte. Der Himmel über ihm war rein und ungetrübt hellblau, aber die Straßenecke war schmutzig, auf den ersten Blick konnte ich nicht unterscheiden, was zum Arbeitsmaterial des Schuhflickers gehörte und was einfach herangewehter Abfall war. Der Mann war sehr dunkelhäutig. Sein Haar war seit langem ungewaschen. Er kauerte, wie eigentlich nur ein Krüppel kauern konnte. Sein Rücken machte einen Buckel. Sein nackter Fuß sah wie eine mißgestaltete Hand aus dem Hosenbein. Er hatte wahrscheinlich nie in seinem Leben Schuhe getragen. Die Schuhe, die er flickte, waren Gegenstände aus einer von ihm geschiedenen Welt, wie ein Hufschmied sich auch keine Eisen unter die Fußsohlen nagelt. Es sah aus, also ob unter dem schlottrigen Hemd des Mannes kein Körper steckte, so dünn war er, aber er lächelte freundlich, wenn ihm ein kaputter Schuh vor die Nase geworfen wurde; so nämlich erhielt er seine Aufträge. Die Kunden sahen ihn nicht einmal an und liefen weiter. Wenn sie nach einer Weile zurückkehrten, reckte der Schuhflicker ihnen von unten den reparierten Schuh entgegen und bekam dafür ein paar Münzen oder einen kleinen Schein. Dann mußte er sich aus seiner zusammengeschraubten Haltung herausarbeiten und bei den Nachbarläden um Wechselgeld bitten. Wenn man ihm damit aushalf, wurde dabei stets der Versuch sichtbar, ihn möglichst nicht zu berühren. In seinem Armutsplunder besaß der Schuhflicker ein paar schöne, aus der Wirrsal herausleuchtende Gegenstände: einen sauberen roten Stein von feiner, stumpfer Körnung, an dem er seine Messer schärfte, aber auch unter den Messern blitzten manche Klingen scharf geschliffen hervor, und das Leimtöpfchen glänzte wie Honig und Bernstein. Ich setzte mich auf ein Mäuerchen und zog den linken Schuh aus, ein Meisterwerk der Schuhmacherkunst, aus verschiedenen Schichten aufgebaut wie die Muskulatur eines Körpers, aus einem mit gerundeten Hämmern weichgeklopften Leder. Der Schuhflicker hielt ihn sich verdreht unter die Augen, er griff zu wie ein Affe, dessen Daumen parallel zu den anderen Fingern steht. Niemals, so hätte ich schwören können, hatte er einen solchen Schuh in der Hand gehalten. Aber er war kein bißchen verwundert. Er zog einen Fetzen Zeitungspapier aus seinem Kram. Er stellte den Schuh darauf und zeichnete mit einem Kugelschreiber dessen Umriß nach. Mit einer schweren, schwarz angelaufenen Schere schnitt er den Sohlenumriß aus und legte ihn auf ein Stück Gummi von einem abgefahrenen schwarzen Autoreifen. An diesem Gummi bewährte sich die Schere.
    »Er wird meinen Schuh nicht reparieren, er wird ihn zerstören«, dachte ich teilnahmslos. Noch hätte ich ihm den Schuh wegnehmen können, aber ich war entschlossen, allem seinen Lauf zu lassen. Mit dem Finger fuhr der Mann ins Leimtöpfchen. Er hatte keine Bedenken, diesen gewiß fest pappenden Leim auf der Haut zu haben. Die zerlöcherte Schuhsohle, die er mit einer räudigen Bürste nur flüchtig gereinigt hatte, salbte er mit dem Leim. Der Staub schmolz in diesen Brei hinein, die Sohle glänzte dunkel. Und nachdem er das Gummi des Autoreifens auf den Schuh geklebt hatte, nagelte er es mit feinen Nägelchen rundherum fest. Der Schuh klang, als sei er aus Holz. Viele Nägelchen mußte er erst einigermaßen gerade klopfen. Sie stammten aus anderen Schuhen, irreparablen, aber deshalb doch nicht wertlosen. Bei der Arbeit benutzte er seinen dickkralligen Fuß tatsächlich wie eine Hand, die Zehen klammerten sich um meinen Schuh und hielten ihn fest, während der Schuhflicker im Schmutz nach weiteren Nägelchen suchte. Was an Gummi überstand, schnitt er mit einer herrlich blanken, papageienschnabelartig gebogenen Klinge ab. Wie sicher er dabei vorging. Wie er sein Material ergriff, als sei es Fleisch von seinem Fleisch. Ich vertiefte mich in seine Arbeit wie gestern abend in die Flammen meines Kaminfeuers. Ich bewunderte diesen Mann. Nicht weit von uns dröhnte ein Automotor, der als privater Generator bei Stromausfall dafür sorgte, daß der Eisschrank im Nachbarladen nicht versagte. Nicht nur von Schmutz, auch von ohrenbetäubendem Lärm war der Schuhflicker umgeben; wie er dort saß, war keine Idylle. Und doch fühlte ich, wie meine Bewunderung unversehens in ein größeres, mich noch tiefer ergreifendes Gefühl umschlug, das beinahe schon gar nichts
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