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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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vergessen.«
    »Was denn?«
    »Wie alt bist du?«
    »Fast dreizehn.«
    »Hör zu. Man wird vermutlich versuchen, dir alles mögliche zu erzählen, aber du darfst nie vergessen, daß es die Deutschen waren, die dein Haus angesteckt haben. Sie haben es getan, und niemand anders.«
    »Das weiß ich doch«, sagte Anton und wurde ein bißchen ärgerlich. »Ich habe es doch schließlich selber gesehen.«
    »Ja, aber sie haben es getan, weil dieses Schwein da umgelegt worden ist, und werden die Schuld jetzt den Illegalen in die Schuhe schieben und sagen: die waren daran schuld, daß wir das tun mußten. Sie werden sagen, daß die Illegalen gewußt hätten, was dann passiert, und daß es deshalb deren Schuld sei.«
    »Oh«, sagte Anton, während er sich ein wenig aufrichtete und versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen, »aber wenn das so ist, dann ist… dann ist nie jemand schuldig. Dann kann jeder machen, was er will.«
    Er fühlte, wie ihre Finger über sein Haar strichen.
    »Weißt du übrigens…«, begann sie zögernd, »wie der Kerl hieß?«
    »Ploeg«, sagte er und spürte im nächsten Moment ihre Hand auf seinem Mund.
    »Leise.«
    »Fake Ploeg«, flüsterte Anton. »Er war bei der Polizei. Ein ganz gemeiner NSB-Mann.«
    »Hast du ihn gesehen?« fragte sie und flüsterte ebenfalls ganz leise. »War er wirklich tot?«
    Anton nickte. Als er begriff, daß sie das nicht sehen, sondern höchstens fühlen konnte, sagte er:
    »Mausetot«, und sah wieder die Blutflecken im Schnee vor sich. »Ich bin mit seinem Sohn in derselben Klasse. Der heißt auch Fake.«
    Er hörte sie tief durchatmen.
    »Weißt du«, sagte sie ein paar Augenblicke später, »wenn die Illegalen das nicht getan hätten, hätte Ploeg noch eine ganze Menge mehr Leute umgebracht. Und dann…«
    Plötzlich zog sie ihren Arm zurück und begann zu schluchzen.
    Anton erschrak, er wollte sie trösten, wußte aber nicht, wie. Er richtete sich auf und streckte vorsichtig eine Hand aus, bis er ihr Haar fühlte, dickes, widerborstiges Haar.
    »Warum heulst du denn jetzt?«
    Sie nahm seine Hand und preßte sie auf ihre Brust. »Es ist alles so entsetzlich«, sagte sie mit erstickter Stimme, »es ist die Hölle, die Hölle, ich bin froh, daß nun bald alles vorbei ist, ich kann nicht mehr…«
    In seiner Hand fühlte er ihre weiche Brust – eine unwirkliche Weichheit, wie er sie noch nie gefühlt hatte, aber er wagte es nicht, die Hand zu bewegen.
    »Was ist bald vorbei?«
    Sie nahm seine Hand in ihre Hände. An ihrer Stimme hörte er, daß sie ihm das Gesicht zugewandt hatte.
    »Der Krieg. Der Krieg natürlich. Noch ein paar Wochen, und alles ist vorbei. Die Amerikaner stehen schon am Rhein und die Russen an der Oder.«
    »Woher weißt du das so genau?«
    Sie hatte das sehr bestimmt gesagt, während er zu Hause nur vage Hinweise gehört hatte, die richtig zu sein schienen und sich dann doch als falsch erwiesen. Sie antwortete nicht. Obwohl der Lichtschein unter der Tür sehr schwach war, konnte er jetzt, wenn auch nur sehr undeutlich, die Umrisse ihres Kopfes und ihres Körpers erkennen und ihr ziemlich wirres Haar, die Stelle, wo sie saß – und einen Arm, der sich ihm näherte.
    »Laß mich kurz dein Gesicht fühlen, damit ich weiß, wie du aussiehst.«
    Sanft fuhren ihre kalten Fingerspitzen über seine Stirn, die Augenbrauen, Wangen, Nase und Lippen. Bewegungslos, den Kopf leicht nach hinten geneigt, ließ er sie gewähren. Er hatte das Gefühl, sie mache etwas sehr Feierliches mit ihm, eine Art Initiation, wie in Afrika. Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und stöhnte.
    »Was ist?« fragte er erschrocken.
    »Nichts. Laß nur…« Sie saß nun vornübergebeugt.
    »Hast du Schmerzen?«
    »Es ist nichts. Wirklich nicht.« Sie richtete sich wieder auf und sagte: »Einmal habe ich eine noch größere Dunkelheit erlebt. Vor ein paar Wochen.«
    »Wohnst du in Heemstede?«
    »Das darfst du mich nicht fragen. Es ist besser für dich, wenn du überhaupt nichts von mir weißt. Später wirst du das sicher verstehen. Einverstanden?«
    »Einverstanden.«
    »Hör zu. Heute scheint kein Mond, und trotzdem ist es eine helle Nacht. Vor ein paar Wochen schien der Mond auch nicht, aber damals war es bewölkt, und es lag auch noch kein Schnee. Ich war bei einem Freund in der Nachbarschaft, hatte mich mit ihm unterhalten und ging erst mitten in der Nacht weg, lange nach der Sperrstunde. Es war so dunkel, daß mich eigentlich niemand sehen konnte. Ich kenne die Gegend in- und
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