Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
Wie in einem Traum spürte er, daß seine Mutter seine Hand plötzlich fester umklammerte. Dann wurden sie auseinandergerissen.
    »Toni!«
    Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, irgendwohin, fort, hinter einen Lastwagen, wie sein Vater. Anton wurde von einem Soldaten am Oberarm zu einem DKW geführt, der auf der anderen Straßenseite schräg auf der Böschung stand. Der Soldat ließ Anton einsteigen und schlug hinter ihm die Tür zu.
    Anton saß zum ersten Mal in seinem Leben in einem Auto. Undeutlich sah er das Lenkrad und die Armaturen. In einem Flugzeug waren noch viel mehr Armaturen, in einer Lockheed Electra zum Beispiel bestimmt fünfzehn, und zwei Steuerknüppel. Er schaute nach draußen. Seine Eltern konnte er nirgends entdecken. Und wo steckte Peter? Auch bei Kortewegs liefen Soldaten mit Taschenlampen ein und aus, aber, soviel er sehen konnte, ohne Peter. Sicher war es ihm gelungen, über die Felder zu entkommen. Wußten die Deutschen überhaupt, daß Ploeg erst vor Kortewegs Haus gelegen hatte? Im Garten der Beumers war niemand. Da die Scheiben beschlugen, wurde die Sicht auf die Straße immer schlechter; er wischte über die Scheiben, seine Hand wurde vom eigenen Atem naß, dennoch blieb alles verschwommen und undeutlich.
    Plötzlich wurden im Schlafzimmer der Eltern die Balkontüren aufgerissen, gleich darauf unten im Wohnzimmer die Vorhänge aufgezogen und von innen alle Fensterscheiben mit Gewehrkolben zertrümmert. Wie gelähmt starrte er auf die herunterprasselnden Scherben. Diese Schufte! Woher jetzt neue Scheiben bekommen, Fensterglas war bestimmt nirgends mehr zu kriegen! Zum Glück hatten die Soldaten nun offensichtlich genug kaputtgemacht, denn einer nach dem anderen kam aus dem Haus. Die Haustür ließen sie offen.
    Es passierte nichts mehr, aber sie fuhren auch nicht ab. Einige zündeten sich Zigaretten an und unterhielten sich, hatten die Hände in den Taschen und traten frierend von einem Bein auf das andere; andere richteten ihre Taschenlampen auf das Haus, als ob sie noch einmal zufrieden genießen wollten, was sie zerstört hatten. Anton versuchte wieder, seine Eltern zu entdecken, aber in der Dunkelheit war bis auf die in den Lichtkegeln hin und her huschenden Soldaten niemand zu erkennen. Irgendwo bellten Hunde. Er dachte zurück, an vorhin, im Eßzimmer, dachte daran, wie der Mann mit dem Hut im Eßzimmer seinen Vater abgekanzelt hatte. Die Erinnerung war plötzlich unerträglich – viel unerträglicher als das Geschehen selbst. Sein Vater hatte den Hut abnehmen müssen… Anton verscheuchte das Bild und wollte nie wieder daran denken müssen, es durfte nicht geschehen sein. Nie im Leben würde er eine Melone tragen, und niemand dürfte nach dem Krieg noch einen Hut tragen!
    Verwundert schaute er nach draußen. Es wurde stiller. Alle traten ein paar Schritte zurück und blieben dann erwartungsvoll stehen. Er hörte einen Befehl, ein Soldat lief auf das Haus zu, warf etwas durch das mittlere Erkerfenster und kam gebückt zurückgerannt. Mit einem dröhnenden Schlag stand für einen Augenblick ein greller Flammenstrauß im Wohnzimmer. Anton duckte sich; als er wieder aufschaute, explodierte eine zweite Handgranate, jetzt oben im Schlafzimmer. Unmittelbar danach erschien ein Soldat mit einer Art Feuerspritze in der Hand und einem zylinderförmigen Behälter auf dem Rücken; er lief auf das Haus zu und fing an, donnernde Feuergarben durch die Fenster zu schießen. Anton traute seinen Augen nicht. Es war unglaublich, nicht wahr, nicht zu glauben, was da geschah. Verzweifelt suchte er seinen Vater und seine Mutter, konnte aber wegen der Lichtblitze nichts mehr erkennen. Ein qualmender Feuerstoß nach dem anderen schoß ins Haus, ins vordere Zimmer, in die Diele, ins Schlafzimmer und dann auch ins Reetdach. Sie taten es wirklich, und es war nichts mehr dagegen zu machen! Das Haus brannte von innen und von außen. All seine Sachen, die Bücher, Karl May, die Naturkunde des freien Feldes, seine Sammlung von Flugzeugbildern, die Bibliothek seines Vaters, die mit grünen Filzstreifen beklebten Regalbretter, die Kleider seiner Mutter, das Wollknäuel, die Stühle und Tische: alles wurde vernichtet. Der Soldat schraubte seinen Flammenwerfer zu und verschwand in der Dunkelheit. Ein paar Männer von der Grünen Polizei mit schräg über den Rücken hängenden Karabinern traten näher an das Haus heran, steckten ihre Handschuhe ins Koppel, streckten die Hände dem prasselnden Feuer entgegen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher