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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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ABHORSEN-HAUS
     
    Als Lirael die Treppe hinunterkam, war sie frisch und sauber von Kopf bis Fuß. Sie vermutete, dass das warme Wasser, in dem sie gebadet hatte, aus heißen Quellen stammte, denn es hatte nach Schwefel gerochen wie manchmal das Wasser im Gletscher.
    Der Sendling hatte elegante Gewänder für sie bereitgelegt, doch Lirael hatte stattdessen die Ersatzgarnitur ihrer Bibliothekarinnenkluft angezogen. Sie trug diese Uniform nun schon so lange, dass sie sich ohne diese Kleidung nicht wohl fühlte. In dem roten Wams kam sie sich wenigstens ein bisschen wie eine echte Clayr vor.
    Der Sendling folgte ihr, einen Wappenrock über dem Arm. Ein anderer Sendling öffnete die Flügeltür rechts von der Treppe, als Lirael hinunterkam. Die Bronzeknäufe wurden von bleichen Zauberhänden gedreht, die sich weiß vom dunklen Eichenholz der Tür abhoben. Dann trat der Sendling zur Seite und neigte den vermummten Kopf. Zum ersten Mal warf Lirael einen Blick in die Banketthalle. Der riesige Raum nahm fast die Hälfte des Erdgeschosses ein, doch es war nicht seine Größe, die Lirael so sehr ins Auge fiel: Als ihr Blick durch die gesamte Länge der Halle schweifte – bis zum anderen Ende mit dem großen Fenster, dessen bunte Glasbilder den Bau der Mauer zeigten –, kam ihr plötzlich alles
bekannt
vor. Und da waren auch der thronähnliche Sessel und die lange Tafel mit den Silbersachen.
    Dies alles hatte Lirael bereits im Dunkelspiegel gesehen, nur dass damals ein Mann hier gewesen war.
    Ihr Vater.
    »Da seid Ihr ja«, sagte Sam, der hinter Lirael erschien. »Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe. Ich konnte die Sendlinge nicht davon überzeugen, mir den richtigen Wappenrock zu geben. Sie haben da etwas Merkwürdiges ausgegraben. Werden wahrscheinlich senil, wie Mogget schon sagte.«
    Lirael drehte sich um und betrachtete Sams Wappenrock. Er zeigte die goldenen Türme, die auch das Wappen des Königsgeschlechts aufwies, doch sie waren von einem seltsamen Muster durchbrochen, das Lirael fremd war – eine Art Kelle oder Spaten in Silber.
    »Das ist die Kelle der Mauerbauer«, erklärte Sam. »Doch es gibt sie schon seit Jahrhunderten nicht mehr… oh, mir gefällt Euer Haar«, fügte er hinzu, als Lirael ihn weiterhin anstarrte. Sie trug ihr Kopftuch nicht, und ihr schwarzes Haar war gebürstet und glänzte samtig. Auch verbarg das Wams ihre schlanke Figur nicht. Sie war wirklich sehr anziehend, doch irgendetwas an ihr verstörte Sam. An wen erinnerte sie ihn…?
    Sam ging an dem Sendling vorbei, der die Tür aufhielt, und war schon fast an der Tafel, als ihm bewusst wurde, dass Lirael keinen Schritt gemacht hatte. Sie stand immer noch an der Schwelle und starrte auf den Tisch.
    »Was habt Ihr?«, erkundigte Sam sich erstaunt.
    Lirael brachte keinen Ton hervor. Sie winkte dem Sendling, ihr den Wappenrock zu bringen, öffnete das prunkvolle Kleidungsstück und blickte fasziniert auf das Muster: die goldenen Sterne der Clayr, vereint mit den Silberschlüsseln der Abhorsen.
    »Was habt Ihr denn?«, fragte Sam. »Ist Euch nicht gut?«
    »Ich… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, murmelte Lirael. Sie öffnete ihr Wams und reichte es dem Sendling, der neben ihr erschien. Sam zuckte zusammen, als sie sich plötzlich auszog, in den Wappenrock schlüpfte und ihn glatt strich.
    »Ich muss halb Abhorsen sein«, hauchte Lirael in einem Tonfall, der verriet, dass sie es selbst kaum fassen konnte. »Ich glaube, ich… ich bin die Halbschwester Eurer Mutter. Ich bin Eure Tante. Halbtante…«
    Sam schloss ein paar Sekunden die Augen, schlurfte wie ein Schlafwandler zu einem Stuhl und setzte sich. Lirael kam zu ihm und nahm ihm gegenüber Platz.
    Sam blickte auf. »Meine Tante? Die Halbschwester meiner Mutter?« Und nach kurzem Nachdenken: »Weiß sie es?«
    »Ich glaube nicht«, entgegnete Lirael, plötzlich wieder besorgt. Sie hatte nie wirklich über die Bedeutung ihrer Geburt nachgedacht. Wie würde die berühmte Sabriel sich beim unerwarteten Auftauchen einer Schwester fühlen? »Nein, sie weiß es sicher nicht«, fügte sie schließlich hinzu, »sonst hätte sie mich längst schon gefunden. Ich habe es selbst erst mit Hilfe des Dunkelspiegels ergründet. Ich wollte sehen, wer mein Vater war, darum blickte ich durch den Spiegel in die Vergangenheit. Ich sah ihn hier, in diesem Raum. Er saß in dem Sessel dort. Er und Arielle hatten nur eine einzige gemeinsame Nacht, ehe seine Pflichten ihn an einen weit entfernten Ort
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