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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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erhoben, wie
um Unglück auf die Stadt herabzubeschwören.
    Honeyman eilte ans Fenster, um die Aussicht zu
genießen. Vor seinen Augen erstreckten sich die Straßen in alle Richtungen, der
Bahnhof kauerte sich dazwischen, und der Glockenturm einer nahen Kirche, der
daraus hervorragte, schimmerte im Mondlicht.
    Die Frau stand hinter ihm. »Nicht das, was du dir
vorgestellt hast?«
    »Wie viele Männer hast du schon hierher gebracht?«
    Sie seufzte; ein heiseres, kehliges Geräusch. »Du
bist der erste«, sagte sie und fing an, langsam ihr Kleid aufzuknöpfen, wodurch
eine aufreizende Lage Unterröcke zum Vorschein kam. Vor Erregung biss sich
Honeyman heftig auf die Unterlippe.
    »Zieh dich aus«, forderte sie.
    Er wischte sich über die Stirn. »Du bist
ungeduldig.«
    »Du nicht?« Sie war mit dem Kleid fertig und
machte sich an ihrer Unterwäsche zu schaffen.
    Honeyman zauderte ein wenig. »Wollen wir zuvor
etwas trinken? Wäre doch eine Schande, solch famosen Champagner zu vergeuden!«
    »Später.« Sie lächelte. »Ich hab das Gefühl, es
wird nicht lange dauern.«
    Honeyman zuckte die Achseln und gehorchte. Er
schnürte sich die Schuhe auf und schleuderte sie weg, nahm die Krawatte ab und
knöpfte Hemd und Hosen auf. Aber Speckwülste und unvorhergesehene Hautfalten
stellten sich ihm in den Weg, und so brauchte er mit alldem länger als sonst;
doch schließlich stand er nackt vor ihr – ekstatisch und prall
geschwollen. Zu seiner Enttäuschung war sie immer noch im Unterrock.
    »Ich will, dass du alles ausziehst«, schnauzte er
sie an. Dann lenkte er nach einem weiteren unwillkürlichen Biss auf die
Unterlippe ein: »Darf ich helfen?«
    Die Frau schüttelte den Kopf, als von der Straße
unten ein tiefes, hallendes, metallisches Dröhnen heraufdrang; es klang, als
hätte etwas gewaltig Großes gegen die Fassade des Turmes geschlagen.
    Honeyman verspürte einen Anflug von Angst. »Was
war das?«
    Bestrebt, ihn zu beruhigen, sagte sie: »Nichts.
Gar nichts. Alles ist, wie’s sein soll.«
    Doch da war das Geräusch wieder, lauter diesmal.
Und jetzt überfiel ihn regelrechte Panik. »Jemand weiß, dass wir da sind!«
    So als hätte sie nur auf ihr Stichwort gewartet,
schälte sich eine Gestalt aus den Schatten einer Ecke des Raums. »Cyril?«
    Er fuhr herum, um sich dem Eindringling zu
stellen – einer grimmig dreinblickenden massigen Frau irgendwo in den
äußersten Regionen ihrer mittleren Jahre. Bei ihrem Anblick schnappte Honeyman
nach Luft, und stechende Tränen stiegen ihm in die Augenwinkel.
    »Mutter?« Er starrte sie voll Entsetzen an.
»Mutter? Bist du das?«
    Ein Teil von ihm weigerte sich ganz einfach, die
Tatsache ihrer Anwesenheit hier hinzunehmen, und er hob verzweifelt die Arme
auf der Suche nach einer vernünftigen Erklärung. Der hoffnungsfrohe Gedanke
durchfuhr ihn, dass es sich um einen ungewöhnlich fulminanten Mohnrausch
handeln könnte – in der Tat hatte dies alles viel von der bizarren Logik
der Opiumhöhle an sich. Vielleicht war er wieder einmal den Verlockungen
irgendeiner fernöstlichen Spelunke erlegen, und bei all dem hier handelte es
sich nur um eine erschreckend lebensechte Sinnestäuschung – beunruhigend
in ihrer Erfahrung, gewiss, und sehr wahrscheinlich eine bittere Lektion über
die Gefahren des exzessiven Gebrauches von Rauschmitteln, doch darüber hinaus
war nichts Gefährliches dran, nichts Lebensbedrohliches. Diese ganze
Misslichkeit würde sehr bald schon vorübergehen. Ohne Zweifel würde er nun
jeden Moment zu sich kommen, zusammengesackt auf einem Diwan, vor sich einen
beflissenen Orientalen, der ihn wachrüttelte, um ihm ein, zwei frische Pfeifen
anzubieten. Er schloss die Augen, um endlich dieses grässliche Trugbild von
sich zu schieben.
    Als er sie wieder öffnete, war seine Mutter immer
noch da, die dicken Arme wie Schweineschinken vor der Brust verschränkt, ihren
erzürntesten Ausdruck im Gesicht.
    »Mutter?«, würgte er hervor. »Mutter, was machst
du hier?«
    »Du warst mir immer eine große Enttäuschung.« Sie
sprach fast im Plauderton, so als wäre nichts Ungewöhnliches oder
Bemerkenswertes an der Szene. »Dein Vater und ich – wir sind ja an deine
Verfehlungen gewöhnt. Aber dies hier …«, – eine vage, ausladende
Gebärde –, »dies ist einfach zu viel!«
    »Mutter …!« Die Realität trat mit voller
Wucht nach ihm, und angesichts einer so unerwarteten und unprovozierten Attacke
brachte Honeyman nicht mehr als ein Wimmern zustande. Er
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